Unruhige Zeiten für Kriegsverbrecher
9. Juli 2006
Für mutmaßliche Folterknechte und Völkermörder wird die Luft dünner – zumindest in Europa. In immer mehr Fällen ermitteln nationale Strafverfolgungsbehörden europäischer Staaten gegen Personen, die schwerster internationaler Verbrechen verdächtigt werden. Mehrere der Beschuldigten sind bereits von nationalen Gerichten einzelner EU-Länder verurteilt worden. Das schreibt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in dem in der vergangenen Woche veröffentlichten Bericht "Universal Jurisdiction in Europe: The State of the Art".
Die Organisation lobt die zunehmende Ausbreitung des "Weltrechtsprinzips" in europäischen Staaten, auch wenn entscheidende Hindernisse noch zu überwinden seien. Nach dem Weltrechtsprinzip können schwerste Verbrechen auch dann von nationalen Gerichten eines Landes verfolgt werden, wenn sowohl die Opfer also auch die mutmaßlichen Täter ausländische Staatsangehörige sind, und das Verbrechen im Ausland begangen wurde. Darunter fallen insbesondere Kriegsverbrechen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Folter.
Positiver Trend durch Internationalen Strafgerichtshof
Zu den bekanntesten Fällen gehört die Verurteilung mehrerer Staatsbürger Ruandas in Belgien im vergangenen Jahr sowie 2001. Sie erhielten lebenslange Haftstrafen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die sie während des Bürgerkrieges in Ruanda begangen hatten. Die Täter hatten in Belgien Asyl beantragt. In einem Fall kamen die Ermittlungen ins Rollen, weil Opfer aus Ruanda, die ebenfalls nach Belgien geflüchtet waren, ihre Peiniger dort auf der Straße erkannt hatten.
Einen entscheidenden Anstoß für den positiven Trend sehen die Autoren in der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs in den Haag Mitte 2002. Das Statut für den ISGH benennt explizit die Straftatbestände des Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. "Mit der Ratifizierung des Statuts haben sich die EU-Länder verpflichtet, diese Straftatbestände auch in nationales Recht zu übernehmen", sagt Jürgen Schurr, einer der Autoren des HRW-Berichts. In Deutschland ist dies mit Inkrafttreten des "Völkerstrafgesetzbuches" 2002 geschehen. Zuvor konnten mutmaßliche Völkermörder höchstens wegen Mordes angeklagt werden. Die tatsächliche Schwere des Verbrechens hätte dadurch jedoch kaum angemessen bewertet werden können, so Schurr. Generell habe die Ratifizierung des ISGH-Statuts "ein starkes Momentum geschaffen, und die europäischen Länder dazu veranlasst, der Verfolgung schwerster internationaler Verbrechen größere Aufmerksamkeit zu widmen."
Vorbild Niederlande – Deutschland hinkt hinterher
Der HRW-Bericht nimmt acht europäische Länder genauer unter die Lupe – Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, Norwegen und Spanien. Besonders positiv fallen dem Bericht zufolge die Niederlande und Großbritannien auf. In Holland gebe es eine "echte politische Bereitschaft, Ressourcen für die Verfolgung dieser Verbrechen bereitzustellen", sagt Schurr. Eine eigene Abteilung mit rund 30 Mitarbeitern kümmere sich in den niederländischen Strafverfolgungsbehörden exklusiv um die genannten internationalen Verbrechen. In Großbritannien gebe es zwar nur zwei dafür zuständige Personen. Diese seien in der Antiterror-Abteilung der Metropolitan Police in London angesiedelt, könnten dort aber auf rund 300 Mitarbeiter der Abteilung zurückgreifen.
Im vergangenen Jahr ist dort beispielsweise ein afghanischer Staatsbürger wegen internationaler Verbrechen verurteilt worden.
Zu den Schlusslichtern zählt der Bericht Frankreich und Deutschland. In Frankreich sei es immer noch nicht möglich, Verdächtige für Kriegsverbrechen zu bestrafen – der Straftatbestand werde im nationalen französischen Recht noch nicht anerkannt. Darüber hinaus stellten beide Länder viel zu wenige Ressourcen zur Verfolgung der Straftaten zur Verfügung. Gerade im Fall Deutschland sei dies verwunderlich, so Jürgen Schurr. Eine eigens eingerichtete "Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen" im Bundeskriminalamt habe sich zwischen 1993 und 2003 mit der Aufarbeitung der Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien beschäftigt. "Jetzt ist jedoch nur noch ein Ermittler für Kriegsverbrechen zuständig."
Politische Gründe verhindern Ermittlungen
"Dabei bietet das deutsche Völkerstrafgesetzbuch eine vorzügliche Grundlage, schwerste internationale Verbrechen auch in Deutschland zu verfolgen", so Schurr. "Gleichzeitig wird dem Generalbundesanwalt jedoch ein großer Ermessensspielraum zugebilligt." Mit anderen Worten: Er kann, muss aber nicht tätig werden. So geschehen im vergangenen Jahr, als der ehemalige Generalbundesanwalt Kay Nehm eine Klage gegen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld abwies. Eine US-Bürgerrechtsorganisation hatte Rumsfeld wegen der Folterungen im US-Gefängnis im irakischen Abu Ghoreib zur Rechenschaft ziehen wollen und die Klage eingereicht. Der Generalbundesanwalt wies die Klage ab – die Folterungen würden bereits durch US-Gerichte untersucht, so die Erklärung.
Neuer Imperialismus?
Dass das "Weltrechtsprinzip" international auf dem Vormarsch sei – wie der HRW-Bericht bescheinigt, sei nicht erkennbar, sagt dagegen Christian Tomuschat, Emeritus-Professor für Völkerrecht an der Berliner Humboldt-Universität. Einige Länder seien zwar "vorgeprescht", und hätten in mehreren Fällen ermittelt oder Urteile gesprochen. Tatsächlich bestehe aber ein tiefes Misstrauen gegen dieses Vorgehen. Es scheine, dass einige Länder, wie Belgien, beinahe den Anspruch erheben, die schwersten internationalen Verbrechen auf nationaler Ebene verfolgen zu können. "Das ist anmaßend und wird möglicherweise von anderen Ländern als eine Art neuer Imperialismus interpretiert", so Professor Tomuschat.
Das Streben nach einer Stärkung des "Weltrechtsprinzips" sei zwar idealistisch aber blauäugig. International sei das Vorgehen politisch höchst umstritten. "Die Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord auf nationaler Ebene kommt nur als letztes Mittel in Frage." Stattdessen sollte der ISGH noch weiter gestärkt werden, um ihn zum zentralen Gremium zu machen, das über diese Fälle befindet, fordert Professor Tomuschat.