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"Unsere Roma sind verzweifelt und aggressiv"

5. August 2002

– Repräsentative Studie zur Lage der Zigeuner in Bulgarien

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Sofia, 5.8.2002, 1006 GMT, RADIO BULGARIEN, deutsch

Eine der gesellschaftlichen Gruppen, die am stärksten von den sozialen Folgen der Systemtransformation in Bulgarien betroffen sind, sind die Roma. Die Zeitung "Trud" bringt einen Artikel über die bulgarischen Zigeuner unter dem Titel "Unsere Roma - verzweifelt und aggressiv"

Die dauerhafte Arbeitslosigkeit ist das erste nicht zu überwindende Übel, das unsere Zigeuner ereilt hat. Zu diesem Schluss kommt eine umfangreiche Studie des Internationalen Zentrums für die Probleme der Minderheiten und die kulturellen Wechselwirkungen. Über 80 Prozent von den 650 000 Roma sind ohne Beschäftigung seit drei Jahren, manche sogar zehn Jahre, heißt es in dem Artikel.

Es handelt sich um eine für Bulgarien repräsentative Studie. Befragt wurden 1200 Roma verschiedenen Geschlechtes und Alters aus Stadt und Land mit verschiedenen Bildung- und gesellschaftlicher Stellung. Die Regierungen in den letzten 13 Jahren hatten nicht das Wissen oder den Willen, um die Probleme der Zigeuner zu lösen. Das ist eine der Schlussfolgerungen der Studie. (...) Die Studie zitiert Wirtschaftsfachleute und Sozialpsychologen mit der Feststellung, dass, wenn die Arbeitslosigkeit eine Gemeinschaft zu mehr als 40 Prozent für länger als zwei Jahren befällt, in ihr der Verfall beginnt, und die Gemeinschaft kann damit nicht fertig werden. Deswegen wachsen in einigen bulgarischen Stadtvierteln junge Leute auf, die Analphabeten sind und im Alter zwischen 16 und 28 Jahren keinen einzigen Tag gearbeitet haben. Und was schlimmer ist, sie hören auf, sich das normale Leben im Zusammenhang mit ordentlicher Arbeit vorzustellen. Das macht es wahrscheinlicher, dass die Menschen im Getto auf illegale Einkommensformen setzten. Die Aggression entlädt sich in Feindschaften zwischen Familien oder Gruppen oder in Kämpfen um die Umverteilung von illegalen Einkommensquellen. Sie richtet sich aber auch gegen die Gesellschaft, die sie verstößt. Ganz Bulgarien konnte das bei den Protesten im Zigeunerviertel Stolipinowo in der Stadt Plowdiw und bei dem Krieg zwischen Familien in der Stadt Widin beobachten.

Ein neues Phänomen, das Forscher beschreiben, ist die Philosophie des Gettos, die vor vier Jahren entstanden sei. Eine weitere Charakteristik dieser Philosophie ist die Hoffnungslosigkeit. 80 Prozent der Roma antworten einfach nicht auf die Frage, welche Erwartungen sie für ihr Leben nach fünf Jahren haben. Für sie ist das Hohn, denn sie kämpfen um ihr tägliches Überleben. Das führt zu Ausbrüchen von Zorn und sozialen Rebellionen. In Gegensatz zu anderen Ländern, in denen diese Studie durchgeführt wurde, müssen die bulgarischen Roma hungern. Ein Drittel von ihnen können sich nie satt essen, ein Viertel ein paar Tage im Monat. Nur ein Viertel der bulgarischen Roma sagen, dass sie keinen Hunger kennen. Die Hälfte der bulgarischen Roma überlebt dank der unregelmäßigen sozialen Hilfen von rund 20 Euro im Monat. Zwei von fünf Roma-Haushalten kommen über die Runden mit den ebenfalls kleinen Renten der Älteren, und jeder dritte durch das Kindergeld. Ein Drittel arbeitet gelegentlich ohne Arbeitsverträge, nur jeder fünfte Roma hat eine regelmäßige Arbeit und feste Anstellung. Ähnlich schlecht ist es mit der Gesundheit der bulgarischen Zigeuner bestellt. Die Sterblichkeit in den ersten zwölf Monaten des Lebens der kleinen Roma-Kinder ist zweimal höher als beim Rest der bulgarischen Bevölkerung, wo sie ebenfalls in den letzten Jahren stark zugenommen hat. 90 Prozent der Straßenkinder sind Roma. Über 18 Prozent der bulgarischen Roma sind Analphabeten. Als Folge dieser Faktoren ist die anteilige Kriminalität bei den verurteilten bulgarischen Roma fünfzehnmal höher als bei den verurteilten Bulgaren. Sie sind schwächer bei der Wirtschaftskriminalität vertreten, aber dreimal öfter bei den Gewaltverbrechen. (fp)