Unsinnlich? Eine unsinnige Frage!
8. Juni 2002Die Kunstszene war von vornherein auf alles andere als eine traditionelle Kunstausstellung gefasst. Chefkurator Okwui Enwezor hatte mit den vorigen vier "Plattformen" in Wien, Berlin, Neu Delhi, St. Lucia und Lagos schon deutliche Zeichen gesetzt. Sein Anspruch: die Kunst als ästhetisches Phänomen aktuellen Diskussionen unterzuordnen. Kann das klappen?
Das Aufseutzen der Kuratorin
Die Zweifel entluden sich in der Pressekonferenz am Donnerstag (06.06.2002), als eine Redakteurin zaghaft äußerte, dass das alles sehr nach "Verkopftheit" klang und wo die "sinnliche" Komponente bleibe? Nach einem deutlich hörbaren Seufzer widersprach Co-Kuratorin Uta Meta Bauer vehement: Theorie sei nichts Unsinnliches!
Die Theorielastigkeit dieser Documenta – das zeigte sich auf dem anschließenden Rundgang - hat nichts Nüchternes. Im Gegenteil. Während in der jahrelangen Vorbereitungszeit und auf den Diskussionsplattformen abstrakte Fragen nach den Bedingungen und Möglichkeiten heutiger Kunstproduktion erörtert wurden, sieht man auf der "größten Kunstausstellung der Welt" jetzt (endlich) die Produkte.
Verbindungen
Indem Enwezor die Debatte um Globalisierung und Postkolonialismus aufnimmt, kann er afroamerikanische, südafrikanische oder osteuropäische Kunstentwürfe neben europäischen und nordamerikanischen Arbeiten zeigen, ohne dass ein Bruch entsteht. Abfall, Urbanismus, Chaos und Grenzen sind Thema in fast allen aktuellen Arbeiten. Zumeist handelt es sich um Videos, Installationen, Fotos – Gemälde gibt es nur wenige in Kassel zu sehen.
Die performative Installation des in Berlin lebenden John Bock in den Karlsauen schlägt einen Bogen zu den Produktansammlungen des Beniner Künstlers Georges Adéagbo, weiter zu den Doku-Soaps über die verschwindende Kultur der Inuits von "Igloolik Isuma Productions" und den aus Wegwerfprodukten gebastelten Stadtutopien des Kongolaners Kingelez.
Mitdenken
Der "exotische Blick" entfällt. Stattdessen: "thinking the other", wie Enwezor immer wieder betont; das andere schon mitdenken. Globalisierung - etwa in der poetischen Fotodokumentation von Lisl Ponger über Genua - ist ein Thema, mit dem sich viele Künstler schon seit Jahren beschäftigen.
Die vielen Foto- und Videoarbeiten, die wie die Arbeiten der libanesischen "Atlas Group" und der pälastinensisch-stämmigen Künstler Fareed Armaly und Rashid Masharawi Kriegsauswirkungen dokumentieren, demonstrieren die Bedeutung des "kulturellen Gedächtnisses".
In Kassel geht es um den Zusammenhang von Visualisierung und Intellekt. Kunst kommt auf dieser Documenta von einem kulturkritischen "Können" - und das ist international.