Unter Kreuz oder Halbmond - Juden im Mittelalter
4. Mai 2005In der europäisch-christlichen Geschichte mussten Juden seit jeher antisemitische Vorurteile und Verfolgung ertragen. Im islamischen Kulturraum war das lange Zeit nicht so. Das hat zu dem Mythos geführt, jüdisch-arabische Geschichte sei ausschließlich harmonisch gewesen. Entstanden ist aber auch der Gegenmythos, der Juden in arabischen Gesellschaften als Opfer permanenter Angriffe sieht.
In seiner Studie "Unter Kreuz und Halbmond" über Juden im christlichen und islamischen Mittelalter widerlegt Mark R. Cohen beide, den Mythos und den Gegenmythos. Denn viele Autoren haben versucht, wie er schreibt, "die Gegenwart einfach in die Vergangenheit hineinzulesen".
Cohen - Professor für Nahost-Studien und jüdische Geschichte an der Princeton University mit Lehr- und Forschungsaufträgen in Kairo, Jerusalem und am Wissenschaftskolleg Berlin - objektiviert seine Arbeit dadurch, dass er die Rezeptionsgeschichte mit einbezieht. Und er stützt seinen Vergleich nicht auf Einzelbeispiele, sondern auf religiöse und rechtliche, politische, wirtschaftliche und soziale Strukturen.
Toleranz als Zeichen von Schwäche
Zu Beginn stellt er fest, dass es hier nicht um die Frage gesellschaftlicher Toleranz gehe, denn Toleranz stellte weder im mittelalterlichen Christentum noch im Islam der klassischen Jahrhunderte eine Tugend dar - im Gegenteil: Sie galt eher als Zeichen der Schwäche gegenüber Minderheiten.
Das frühe Christentum stand zudem in direkter Konkurrenz zu einem vom Römischen Reich weitgehend unbehelligten Judentum; der Konflikt mit ihm gehört seitdem existentiell zur christlichen Selbstdefinition.
Diese "Hassliebe" kannte der Islam gegenüber den Anhängern der "Buchreligionen" nicht. Wohl gab es auch hier Demütigungen durch die Kopfsteuer und mancherorts spezielle Kleidungsgebote.
Ansonsten war das Verhältnis hierarchisch geregelt: Juden und Christen spielten eine marginale aber klare Rolle im islamischen Recht innerhalb der Gesellschaft. Dazu kam, dass es viele ethnische und religiöse Gruppen gab - Araber, Perser, Berber, Kurden, Türken, Juden, Christen, Zoroastrier -, so dass Abgrenzung zu anderen ganz normal war.
Im Christentum waren Juden dagegen Schutzbefohlene einzelner Fürsten; es gab besondere Gesetze, die sie außerhalb der Gesellschaft stellten und jederzeit widerrufen werden konnten. Der Schritt zur Ächtung und weiter zu Pogromen und Vertreibungen war so relativ kurz.
Hinzu kam, dass das frühe Christentum das Anhäufen von Reichtum missbilligte. Das machte Juden als Händler, die sie meistens waren, suspekt.
Wachstum von Wohlstand unter islamischer Herrschaft
Als vermehrt christliche Kaufleute auftraten, sahen sie in den Juden vorwiegend Konkurrenten. Damit verhielt sich die Sicherheit der Juden umgekehrt proportional zum allgemeinen wirtschaftlichen Wohlstand. Unter islamischer Herrschaft dagegen wuchsen Wohlstand und Sicherheit parallel zur Gesamtgesellschaft.
Muslime waren seit jeher Händler, ihr Prophet Mohammad heiratete eine Kaufmannswitwe. Auch Städte florierten darum im islamischen Kulturkreis, so dass Juden - als überwiegende Stadtbewohner - nicht besonders auffielen. Das mittelalterliche Europa jedoch war stark agrarisch strukturiert und Stadtbewohnern haftete ein Stigma an.
Verfolgung der jüdischen Minderheit
Verfolgt wurden Juden auch im Islam. Aber keineswegs in dem Maße wie im mittelalterlichen Christentum, das Historiker - insbesondere ab dem 12. Jahrhundert - als "Verfolgungsgesellschaft" charakterisiert haben.
Im islamischen Kulturkreis wurden Juden offenbar nicht als Juden verfolgt, sondern als Minderheit wie andere Minderheiten auch (und oft weniger als Christen).
Mark R. Cohen findet Beweise für die unterschiedliche Stellung der Juden auch in der Literaturgeschichte: Im niedergeschriebenen historischen und damit kollektiven Gedächtnis der Juden gibt es zahlreiche Zeugnisse der mittelalterlichen Leidensgeschichte im Christentum; eine Tradition, die unter Holocaust-Überlebenden in Europa fortlebt.
Keine politische Botschaft für die Gegenwart
Entsprechendes gibt es in muslimischen Ländern kaum. Man sollte sich davor hüten, in Cohens Erkenntnissen eine politische Botschaft für die Gegenwart lesen zu wollen - wohl aber sind die Bedingungen interessant, unter denen die jüdische Minderheit in relativer Sicherheit oder aber zunehmend verfolgt lebte.
Antisemitismus ist unter Muslimen heutzutage weit verbreitet. Der historische Hintergrund kann helfen, die Frage zu beantworten, ob das immer schon so war und sich deshalb auch unter veränderten politischen Vorzeichen nicht abschwächen würde. Oder ob eine politische Lösung im Nahostkonflikt den Antisemitismus eindämmen könnte, weil im kollektiven historischen Gedächtnis ein toleranteres Miteinander verankert ist.