Unterwegs beim "Marsch für Gerechtigkeit" in der Türkei
Die Unterdrückung hat zehntausende Menschen in der Türkei auf die Straße getrieben. Tagelang waren sie unterwegs, zu Fuß nach Istanbul. Diego Cupolo hat sich auf der Fernstraße D100 unter die Demonstranten gemischt.
Vielstimmiger Ruf nach Gerechtigkeit
Sie sind viele: mehrere zehntausend Menschen, unterwegs in Richtung Istanbul. Sie wollen die anhaltenden Repressalien durch den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nicht mehr hinnehmen. Auslöser: die Inhaftierung des CHP-Abgeordneten Enis Berberoglu. Der Oppositionelle war wegen eines Artikels über geheime Waffenlieferungen an Rebellen in Syrien zu 25 Jahren Haft verurteilt worden.
Gegen die Razzien des Regimes
An der Spitze des Protests marschiert Kemal Kilicdaroglu (Mitte), Vorsitzender der oppositionellen CHP. Der Vergleich mit Mahatma Gandhi mag ihm schmeicheln - aber es treiben ihn ähnliche Ziele an. Es gebe keinen anderen Weg, die Razzien, die Verhaftungen und die Aushöhlung der demokratischen Institutionen anzuprangern. "Es ist, als würden wir gegen eine Mauer anrennen", sagt Kilicdaroglu der DW.
"Bündnis gegen Faschismus"
"Es ist unsere Verpflichtung, ein Bündnis gegen das Abgleiten des Landes in den Faschismus zu bilden", sagt Tur Yildiz Bicer, als CHP-Vize für die Stadt Manisa zuständig. "Nach dem Referendum haben wir uns gesagt: 'Nein, es ist noch nicht vorbei.' Nun stellen wir fest, dass sich selbst einige Anhänger der Regierungspartei AKP uns angeschlossen haben. Es zeigt sich, dass sich die Stimmung dreht."
"Recht, Gesetz, Gerechtigkeit"
Einer der Demonstranten ist Vesyel Kilic (65). Er hat immer die konservativen Parteien gewählt, bis sein Sohn nach dem Putsch im vergangenen Jahr inhaftiert wurde. "Das ist nun zwölf Monate her und er kennt immer noch keine Anklageschrift." Der besorgte Vater sagt: "Ich verlange Gerechtigkeit und habe gemerkt, dass hier alle dasselbe wollen." Die Menge ruft: "Recht, Gesetz, Gerechtigkeit."
Gemeinsam gegen Erdogan?
Die Organisatoren des Marsches sagen, eines der wichtigsten Ziele sei es die Gegner der Politik von Staatschef Erdogan zu einer schlagkräftigen Opposition zusammenzuführen. Ebenso wichtig dürfte es sein, den Graben zwischen Kemalisten und kurdischen Gruppen in der Türkei zu überwinden. Währenddessen machen die Marschierenden eine Pause in Tavsancil, bevor es weiter nach Istanbul geht.
Gegenwind der Erdogan-Anhänger
Immer wieder müssen sich die Teilnehmer des Protestzuges wütende Beschimpfungen von Erdogan-Anhängern anhören, die sich an der Fernstraße versammelt haben. "Dieser Marsch ist kein Kampf für Gerechtigkeit, er bringt nur Schande für die Menschen, die sich diese Hitze antun", sagt Umut Kaveci (26), der aber nicht auf das Foto wollte. "Am Ende gibt es hier nur einen Stau, den niemand braucht."
Deutliche Polizei-Präsenz
Während des gesamten Marsches war die Polizei allgegenwärtig. Es hieß, es gelte Angriffe und Ausschreitungen zwischen unterschiedlichen Gruppen zu verhindern. Dabei blieb es überwiegend ruhig. Dieser Polizist fordert den jungen Demonstranten auf, nicht unnötig zu provozieren. "Stell mich nicht auf die Probe."
Blasen an geschwollenen Füßen
Einen der Bodyguards von Parteichef Kilicdaroglu hat es erwischt. Nach einem langen Tag auf dem Asphalt muss er seine Füße behandeln lassen. Blasen an den geschwollenen Füßen waren an der Tagesordnung, auch Hitzschlag-Opfer mussten versorgt werden. Temperaturen um die 40 Grad machten die Aktion zur Strapaze. Ein Demonstrant erlag den Folgen einer Herzattacke.
Harte Bedingungen
Doch trotz aller Hindernisse sind die Demonstranten ihrem Anführer Kilicdaroglu gefolgt. Bis zu 20 Kilometer haben sie am Tag absolviert. In den Nächten konnten die Teilnehmer entweder nach Hause fahren oder in den Unterkünften übernachten, die von der CHP am Rand der Strecke vorbereitet worden waren. Dieser Demonstrant gönnt sich eine Pause in Tavsancil östlich von Istanbul.
"Ich mache das für meine Enkel"
Husnu Sucu ist 58 Jahre alt und schon im Ruhestand. Von den mehr als 120 Kilometern in acht Tagen hat er sich nicht abschrecken lassen. Jede Nacht hat er mit den anderen Demonstranten verbracht. "Ich mache das für meine Enkel", sagt er. "Wir können es nicht zulassen, dass die gegenwärtige Regierung immer so weitermacht. Das ist zu gefährlich für die Zukunft unseres Landes."