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Die Flüchtlinge von Del Rio

Rieke Havertz
21. September 2021

Zehntausende Haitianer sind in der US-Grenzstadt Del Rio angekommen. Gerüchte nähren die Hoffnung auf ein Leben in den USA. Doch der Präsident, auf den die Menschen hoffen, hat andere Pläne.

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Menschen aus Haiti durchqueren den Rio Grande von Mexiko aus in Richtung USA
Einige der Neuankömmlinge durchqueren den Rio Grande von Mexiko aus in Richtung USABild: Felix Marquez/AP/dpa/picture alliance

Die Hoffnung in Del Rio ist ein blass-gelbes Gebäude neben einem staubigen Fußballplatz. Wer es hierher geschafft hat, der ist dem Fluss entkommen, der Grenze, und für den Moment auch ein wenig der Unsicherheit. Wer im Schatten der Hauswände mit einem braunen Papierumschlag in einer Schlange steht, wartet an diesem gnadenlos heißen Nachmittag auf einen Bus.

Mehr als 40 Grad sind es im Schatten, doch hier gibt es Wasser, Obst, Freiwillige von der Border Humanitarian Coalition, die sich kümmern. Keine provisorischen Camps und menschenunwürdigen Bedingungen wie unter der Brücke der Stadt, die über den Rio Grande führt und Mexiko und die Vereinigten Staaten miteinander verbindet. Charly ist einer von mehr als hundert Flüchtlingen hier, wie fast alle ist auch er aus Haiti. Der 32-Jährige ist schon lange auf der Reise.

Schlange  vor dem Gebäude der Border Humanitarian Coalition
Schlange vor dem Gebäude der Border Humanitarian CoalitionBild: Rieke Havertz

Zwei Monate war Charly unterwegs, zwölf Länder hat er dabei hinter sich gelassen. Alles für seine Zukunft, wie er sagt. Sein Heimatland verließ er schon vor Jahren, in Chile blieb er ein paar Jahre. Doch die Pandemie hat dort die wirtschaftliche Lage verschärft. Und auch Diskriminierungen nahmen zu. Zurück nach Haiti, einem der ärmsten Länder der westlichen Hemisphäre, das nach dem Attentat auf Präsident Jovenel Moïseim Juli und einem Erdbeben im August noch tiefer ins Chaos gerutscht ist, das ist keine Zukunft, wie Charly sie sich vorstellt.

Charly, hier mit dem Baby einer Bekannten, war zwei Monate lang unterwegs
Charly, hier mit dem Baby einer Bekannten, war zwei Monate lang unterwegsBild: Rieke Havertz

Nun steht er mit seinem blauen Basecap und dem bunten Blumenhemd endlich in den USA. Weil er Familie in Orlando hat, hofft er, nicht abgeschoben zu werden. So wie auch Edlin. Die 27-Jährige sitzt etwas am Rand und füttert ihre einjährige Tochter. "Ich hoffe auf Arbeit und ein besseres Leben”, sagt sie. Auch sie floh 2018 zunächst nach Chile und war genau wie Charly etwa zwei Monate unterwegs. "Mir geht es gut”, sagt Edlin, trotz allem. Ihre Sätze sind kurz, fast immer schaut sie ihre Tochter an.

Karte Del Rio Texas USA DE

Auch Edlin hat den Umschlag, in dem Papiere den Weg zu ihrer Familie in den USA weisen sollen. Es ist eines der vielen Gerüchte, die unter Flüchtlingen verbreitet sind, dass niemand abgeschoben wird, der Familie im Land hat. Mit Joe Biden als Präsident im Weißen Haus sollte alles besser werden, das verheißungsvolle Amerika wieder erreichbar sein, so glaubten viele von ihnen. Doch auch wenn Biden eine humanitärere Einwanderungspolitik als Donald Trump versprochen hat und dessen Mauerbau stoppte, gibt es nicht unbedingt weniger Mauern an der langen Südgrenze des Landes.

Unerwünschte Bilder

Wenige Kilometer südlich des gelben Gebäudes endet die Hoffnung in Del Rio an einem schwarzen Stahlzaun. Nachdem die Bilder des Migrantencamps öffentlich wurden, ist der Weg dorthin versperrt. Das Niemandsland der Grenzregion ist abgeriegelt. An einem schon lange geschlossenen Supermarkt wird in den Schaufenstern auf Spanisch noch für Alkohol und Zigaretten geworben. Eine Verheißung des gelobten Landes, der die Farbe abblättert.

Tausende Menschen campieren unter der Bücke nach Del Rio
Tausende Menschen campieren unter der Bücke nach Del RioBild: San Antonio Express-News/Zuma/dpa/picture alliance

Straßensperren und Wagen der State Trooper blockieren ein paar Meter weiter die Brücke, über die sonst der Grenzverkehr rollt. Soldaten der Nationalgarde fahren in geländegängigen Wagen über die Straße, ein Einfahrtstor ist noch geöffnet für die hunderte Beamten, die die Regierung in Washington nach Texas geschickt hat. Sie sollen die Lage schnell wieder unter Kontrolle bringen, damit es nicht noch mehr bedrückende Bilder gibt, von denen Biden sich fernzuhalten versucht. Sein Heimatschutzminister Alejandro Mayorkas ist gekommen, um die Botschaft der Regierung noch einmal deutlich zu machen: "Kommt nicht.” Und die, die nun in Del Rio angekommen sind, werden konsequent zurückgeschickt.

Kaum eine Chance

Seit Sonntag werden Haitianer mit Flugzeugen zurück in ihre Heimat transportiert, Tausende werden darüber hinaus in andere Orte der USA verlegt, um von dort aus eine Entscheidung über ihren Status zu treffen. Die allermeisten von ihnen, das sagt auch Mayorkas noch einmal, sollen jedoch in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden. Doch trotz der abgeriegelten Brücke versuchen es Menschen immer noch: Videos zeigen Grenzbeamte auf Pferden, die Migranten im Rio Grande anschreien, umzukehren und ihre Peitschen einsetzen.

Es sind Szenen, über die sich das Weiße Haus entsetzt zeigt, die nun aber genauso in der Welt sind wie die Zehntausenden unter der Brücke. Ende der Woche will die Grenzschutzbehörde das Camp aufgelöst haben.

Frank Lopez findet das alles nicht überraschend. Weder das Chaos noch die vielen Menschen, die sich in der Stadt, in der er seit langem lebt, eingefunden haben. "Die einzigen, die davon überrascht sind, sind doch nur die Politiker”, sagt der 55-Jährige, der selbst lange als Grenzschutzbeamter gearbeitet hat. Die 35.000-Einwohner-Stadt Del Rio ist für ihn ein Kriegsgebiet. Und der Präsident hat das aus seiner Sicht zu verantworten. Offene Grenzen habe er versprochen. "Das schreit doch nach Desaster”, sagt Lopez an der versperrten Brücke, wo er regelmäßig steht, um für seine Facebook-Seite kurze Videos zu drehen.

Der Trump-Unterstützer Frank Lopez macht Präsident Biden für die Krise mitverantwortlich
Der Trump-Unterstützer Frank Lopez macht Präsident Biden für die Krise mitverantwortlichBild: Rieke Havertz

Er hat nicht viel Zeit, ist aber in Redelaune. Denn er ist wütend auf die Politik, aber nicht nur die Demokraten, sagt der Trump-Unterstützer. Der habe immerhin noch Druck auf Mexiko ausgeübt. Aber niemand habe doch eine Ahnung, wie solche Entscheidungen das Leben der Bürger beeinflussen würden. Natürlich, in der Stadt gehe das Leben schon weiter, mit Fußballspielen am Wochenende und Alltag eben. Doch die vielen Flüchtlinge machten den Menschen Angst. Und es würden doch immer nur mehr kommen, wenn das Land nun nicht konsequent abschieben würde. Dafür gebe es Einwanderungsregeln, sagt Lopez. "Wir sind nicht herzlos, aber wir können doch nicht allen helfen, es gibt Grenzen.”

Der geschlossene Grenzübergang bei Del Rio
Der geschlossene Grenzübergang bei Del RioBild: Jordan Vonderhaar/AFP/Getty Images

Diese roten Linien sind für Konservative wie Lopez schon lange überschritten. In den USA haben die Grenzübertritte den höchsten Stand seit Jahrzehnten erreicht. Mehr als 200.000 Menschen ohne Papiere wurden im August von der Grenzpolizei aufgegriffen, seit Oktober vergangenen Jahres sind es mehr als 1,5 Millionen. Die Republikaner machen dafür Bidens Einwanderungspolitik verantwortlich. Ted Cruz, Senator in Texas, ließ sich unter der Brücke filmen und setzte den Hashtag #BidenBorderCrisis dazu.

Die Debatte um Einwanderung wird eins der umkämpften Themen der Zwischenwahlen im kommenden Jahr sein. Und der Präsident findet noch keinen Ausweg aus dem Dilemma, menschlich agieren zu wollen und gleichzeitig bei seiner "Kommt nicht”-Rhetorik zu bleiben, die gerade eher zu einer Abschottungspolitik führt. Menschenrechtsorganisationen und der linkere Flügel der Demokraten kritisieren den Präsidenten für die Abschiebeflüge nach Haiti. "Das ist völlig unmenschlich. Die Haitianer durchleben eine Krise nach der anderen und verdienen Mitgefühl”, twitterte etwa die Abgeordnete Ilhan Omar.

Roberte "Robenz" Marquez kam einst selbst als Einwanderer in die USA
Roberte "Robenz" Marquez kam einst selbst als Einwanderer in die USABild: Rieke Havertz

Roberte Marquez, Künstlername Robenz, fasst das auf einer großen Leinwand vor dem Grenzzaun in Del Rio in einem Slogan zusammen: "Stoppt die Abschiebungen", steht in schwarzen Lettern auf orange-weißem Hintergrund. Pinsel und Farbe liegen auf seinem Pickup bereit. Robenz steht hier, weil er sich solidarisch zeigen will "mit meinen Brüdern unter der Brücke”. Seit Jahren arbeitet er, der ursprünglich einmal aus Mexiko kam und mittlerweile amerikanischer Staatsbürger ist, mit Migranten zusammen. Jobs würden ihnen helfen, sagt Robenz. Aber viele Amerikaner fürchten eben um ihre Arbeitsplätze, was die Republikaner als Argument für ein restriktive Einwanderungspolitik anführen. Dennoch gibt es viele Jobs im Land, die von Menschen ohne Papiere gemacht werden. Trumps Politik fand Robenz schwierig, bei Biden ist er sich noch nicht sicher. Doch die Menschen zurückzuschicken, das würde nichts bringen. "Sie kommen wieder”, sagt Robenz.

Für Charly und Edlin geht der Weg für erste nicht zurück, sondern weiter. Mit einiger Verspätung biegt der Bus, den die Freiwilligen in Del Rio organisiert haben, um die Ecke. Sie haben einen Platz in ihm. Es geht ein Stückchen weiter in Amerika. Doch ihr Ankommen bleibt ungewiss.