Ein Seitensprung ist nicht das Ende
6. November 2019Wenn Stephan früher nächtelang unterwegs war, konnte Maria nicht schlafen. Die Angst, ihr Freund könnte, anstatt nach Hause zu kommen, im Bett einer anderen Frau landen, hielt sie hellwach. Schließlich passierte genau das: Stephan ging fremd, beichtete den Seitensprung und Marias Welt brach zusammen.
Für viele Paare endet die Geschichte hier. Zu groß und zerstörerisch fühlt sich ein Betrug oft an. Maria und Stephan hingegen sind immer noch zusammen. Nicht nur das: Zwölf Jahre und zwei gemeinsame Kinder später sagt Maria, dass der Vertrauensbruch von damals das Vertrauen in die Beziehung der beiden sogar gestärkt hat. Ernsthaft?!
Fremdgänger sind wir alle
Die Frage, was Menschen dazu bewegt, fremd zu gehen, beschäftigt auch die Psychologin und Psychotherapeutin Kristin Gilbert. Zusammen mit Kollegen hat sie bereits vor mehr als zehn Jahren innerhalb eines Projektes an der TU Braunschweig erforscht, welche Umstände einen Seitensprung begünstigen.
Mehr dazu: Kein Leben ohne Liebe
Mit Hilfe der in der Studie gesammelten Daten entwickelten die Wissenschaftler eine Therapie speziell für Paare, deren Beziehung durch Untreue erschüttert worden ist. Gilberts Fazit: Potentielle Fremdgänger sind wir alle. Zumindest dann, wenn bestimmte Risikofaktoren zusammen kommen.
Wer wie Stephan gerne unterwegs ist, viele Leute kennt und Partys liebt, dem bieten sich ungleich viel mehr Gelegenheiten, als jemandem, der seinen Mikrokosmos nur selten verlässt. "Kontextuelle Risikofaktoren" nennt Gilbert das.
Gelegenheiten allein machen natürlich nicht automatisch untreu. "Häufig war auch die partnerschaftliche und hier besonders die sexuelle Zufriedenheit gering", erzählt Gilbert von den Befragungen damals. So wie diese Zufriedenheit häufig mit der Dauer der Beziehung abnimmt, nimmt die Bereitschaft fremdzugehen zu. Die Psychologin spricht von "partnerschaftlichen Risikofaktoren".
Mehr dazu: Streit in der Partnerschaft: Wer kämpft, verliert
Kinder erhöhen dieses Risiko meist noch. Stephan ging nur wenige Monate nach der Geburt des ersten gemeinsamen Kindes mit Maria fremd. "Er stand ganz hinten auf meiner Prioritätenliste", erklärt sie die Situation von damals. Was viele Frauen für den Rest ihres Lebens traumatisieren würde, scheint Maria restlos verdaut zu haben. Wie hat sie das geschafft?
Freiheit durch Fremdgehen
Jedenfalls nicht ohne Paartherapie, sagt Maria. Mit Hilfe der Therapeuten haben sich Maria und Stephan die Muster angeschaut, die ihr Verhalten als Paar entscheidend mitgesteuert haben. Es ist das, was Kristin Gilbert unter "individuellen Risikofaktoren" zusammenfasst.
"Ein wichtiger Punkt ist das Treuekonzept: Je liberaler meine Einstellung zu Monogamie und Treue, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich fremdgehe", sagt Gilbert. Ein wesentliches Motiv der von den Wissenschaftlern befragten Fremdgänger sei außerdem der Wunsch nach Freiheit und Autonomie gewesen.
Mehr dazu: Monogamie ist nur eine Erfindung
So auch bei Stephan: In der Therapie erkannte er, dass er - sobald er seine Freiheit in Gefahr sah - immer wieder für ihn wichtige Dinge zerstörte. Am Ende schadete er nicht nur anderen damit, sondern auch sich selbst.
Täter und Opfer - wer ist wer?
Der Betrüger ist der Täter, der Betrogene das Opfer. Darüber herrscht gesamtgesellschaftlicher Konsens. Auch Maria hat es so empfunden. Es ist ja auch nicht falsch. Allerdings ist es auch nicht die ganze Wahrheit.
"Es gibt hier zwei Ebenen, die unterschieden werden müssen", sagt der Psychologe und Paartherapeut Hans-Georg Lauer. Wer den Schritt macht und fremdgeht werde natürlich zum Täter. Wer so weit geht, braucht sich also über die Wut und den Schmerz des betrogenen Partners nicht zu wundern.
An der Beziehungsdynamik, die häufig den Nährboden und die Ursache für die Untreue bildet, seien allerdings beide Partner beteiligt, so Lauer. Das ist keine schlechte Nachricht. Schließlich ist da, wo Verantwortung ist, auch Handlungsspielraum. So hat es auch Maria empfunden: "Es hat mich total erleichtert zu merken, dass ich nicht nur Opfer bin."
"Untreue bedeutet noch lange nicht das Ende einer Beziehung", sagt Lauer. Der Paartherapeut skizziert drei Schritte, die notwendig sind, wenn die Beziehung noch eine Chance haben soll. Die aber auch dann sinnvoll erscheinen, wenn Wut und Schmerz nicht lebenslängliche Begleiter bleiben sollen.
Zuerst gehe es darum, wieder ein Minimum an Vertrauen herzustellen. "Dafür braucht es Offenheit", sagt Lauer. In seinen Therapiesitzungen dürfen die Betrogenen deshalb Fragen stellen. "Das stärkt das wechselseitige Verständnis", erklärt der Psychologe. Außerdem mache es die Paare wieder sprechfähig. Eine nicht unwichtige Voraussetzung für den potentiellen Neustart der Beziehung.
Mehr dazu: Wir müssen reden!
Aushalten, aushalten, aushalten
Mit den Fragen kommt der Schmerz: "Den Betrug konkret zu machen und dem Ungewissen einen Namen zu geben, macht auch den Schmerz erst so richtig spürbar", sagt Lauer. "Schritt eins: Fragen aushalten. Schritt zwei: Schmerz aushalten." Wer das schafft hat eine gute Chance, ihn zu überwinden.
Drittens sei es wichtig, sich bewusst zu machen, dass es keine vorschnellen Antworten gebe. "Manche Paare neigen dazu, direkt wieder zur Tagesordnung überzugehen", sagt Lauer. Oft sei die Angst vor dem, was da in der Tiefe lauern könnte, zu groß. Lieber schnell akzeptieren, was passiert ist, anstatt sich der Tragweite des Problems bewusst zu werden und die Unsicherheit auszuhalten. "Doch das rächt sich meistens."
Dass es sich lohnt, einen Blick auf die persönlichen Muster der beiden Partner zu werfen, kann Maria bestätigen. Bevor sie mit Stephan zusammen war, war sie selbst häufig die Affäre und damit Teil einer Dreierkonstellation, in der sie über den Status der heimlichen Geliebten nicht hinaus kam.
Mehr dazu: Glücklicher Partner? Längeres Leben!
Was dich nicht umbringt, macht dich stark
In Therapien werden die – oft unbewussten – Glaubenssätze offenbar, die den Weg, den unser Leben nimmt, oft mitbestimmen. "Ich bin es nicht wert, dass sich jemand voll und ganz für mich entscheidet", glaubte Maria. Als Stephan sie betrog, sah sie sich in ihrer Wertlosigkeit bestätigt.
Doch Stephan blieb. Trotzdem es ihn stark zu der anderen Frau hinzog, entschied er sich dafür, sein eigenes Handlungsmuster zu durchbrechen und sich weiter auf Maria einzulassen. "Zu erleben, dass wir durch diese Krise durch gegangen sind, hat ganz viel entspannt", sagt Maria.
"Ein Paar, das gemeinsam durch eine Krise geht, kann einen Quantensprung machen", sagt Lauer. Auf Maria und Stephan trifft das zu. Das Thema Seitensprung ist kein Schreckgespenst mehr. Das liegt nicht nur daran, dass Maria ihrem Mann verziehen hat und sich beide ihrer Handlungsmuster viel bewusster sind, als vor dem Betrug.
Maria hat außerdem auch ihr Gefühl von Wertlosigkeit besiegt. "Ich dachte immer, wenn er fremdgeht, kann ich das nicht aushalten. Das wird mich umbringen." Sie hat es nicht nur überlebt, sondern sagt, ihre Beziehung sei stärker und ehrlicher geworden. Wenn Maria heute von einer der schwierigsten Zeiten ihres Lebens spricht, dann klingt sie dankbar, dass all das genau so passiert ist.