Mindestlohn für "24-Stunden-Pflege"
24. Juni 2021Bereitschaftszeiten müssen in Deutschland bezahlt werden. Das wissen Feuerwehrmänner, Taxifahrer und Sanitäter. Doch was tun, wenn man rund um die Uhr zur Verfügung steht, weil man mit einer zu pflegenden Person unter einem Dach lebt?
Dobrina D. aus Bulgarien hat im Jahr 2015 als "24-Stunden-Pflegerin" in Berlin gearbeitet. Sie kümmerte sich um eine 96-jährige Deutsche: "Ich stand 24 Stunden täglich zur Verfügung", erzählte sie der DW vor einem Jahr. Oft musste die Bulgarin mehrmals in der Nacht aufstehen, um Windeln zu wechseln oder Medikamente zu verabreichen.
Freizeit oder gar freie Tage habe sie nicht gehabt, so Dobrina D. weiter. Für den ständigen Einsatz, der verlangt wurde, wurden gerade mal sechs Stunden am Tag bezahlt, 950 Euro netto bekam sie im Monat. Also zog die Bulgarin vor ein deutsches Gericht - als erste von geschätzt 100.000 bis 300.000 Betreuungskräften, vor allem Frauen aus Osteuropa, die bei deutschen Senioren wohnen, um sie zu pflegen.
Dobrina D. klagte sich durch alle Instanzen. Die Altenpflegerin folgt "ihrem" Prozess von Bulgarien aus. Nun gaben ihr die höchsten deutschen Arbeitsrichter in der zentralen Frage recht: "Auch Bereitschaftsdienstzeit ist mit dem vollen Mindestlohn zu vergüten", sagte der vorsitzende Richter Rüdiger Linck in der Verhandlung am 24.06.2021 im Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt.
Weiter strittig: Die Berechnung der Arbeitszeit
Doch wie viel Lohnnachzahlung Dobrina D. nun von der bulgarischen Agentur bekommen soll, die ihr die Stelle in Berlin vermittelt hatte, bleibt unklar. Denn die Bundesrichter haben eine frühere Entscheidung des Landesarbeitsgerichts (LAG) Berlin-Brandenburg dazu revidiert. Die Berliner Richter wollten, dass die Bulgarin den Mindestlohn für 21 Stunden am Tag bezahlt bekommt. Dafür wurden ihr 38.377 Euro brutto abzüglich der bereits gezahlten 6.680 Euro netto zugesprochen. Die Richter in Erfurt urteilten nun, dass die LAG-Entscheidung nochmals zu überprüfen ist, da ihnen deren Begründung nicht ausreichte.
Auch deshalb verbuchen beide Seiten im Prozess das heutige Urteil als ihren Erfolg. "Das ist genau das, was wir erreichen wollten," so Michael Wendler, Anwalt der beklagten bulgarischen Vermittlungsagentur, gegenüber der DW. "Nach unserer Auffassung konnte das Ganze nicht so enden, dass 21 Stunden am Tag zu vergüten sind". Die LAG-Schätzung von Dobrina D.s Arbeitsstunden müsse nun noch einmal genau überprüft werden. Zudem müsse der Tatsache, dass sich die Altenpflegerin in ihrem Arbeitsvertrag zu 30 Arbeitsstunden pro Woche verpflichtet habe, mehr Beachtung finden. Von Überstunden will Dobrina D.s Ex-Arbeitgeber nichts wissen.
Gewerkschaft: richtungsweisendes Urteil
Justyna Oblacewicz vom Beratungsnetzwerk "Faire Mobilität" des Deutschen Gewerkschaftsbundes hat Dobrina D.s Fall von Anfang an betreut. Für sie ist das Urteil zum Mindestlohn für Bereitschaftszeit richtungsweisend: "Wenn wir davon ausgehen, dass die Frauen bis zu 24 Stunden zu arbeiten haben, dann bedeutet das auch, dass diese 24 Stunden vergütet werden müssen", sagt sie gegenüber der DW. "Es ist nicht alles damit getan, was im Arbeitsvertrag steht. Entscheidend ist, wie viel tatsächlich gearbeitet wird", so Oblacewicz.
Dobrina D.s Fall zeigt, wie sich hinter den Türen von hunderttausenden deutschen Haushalten eine Spannung zwischen der Erwartungshaltung von Familien mit Pflegefällen und den Betreuungskräften aufbaut. In dem Erhebungsbogen des deutschen Partners der bulgarischen Agentur, den die Angehörigen der 96-jährigen Dame 2015 ausgefüllt hatten, war als "angedachter Einsatz" "24 Stunden Betreuung/Pflege" angegeben.
Anstellung unmöglich?
Doch in dem Arbeitsvertrag, den Dobrina D. mit der Vermittlungsagentur in Bulgarien abgeschlossen hat, war nur von sechs Stunden Arbeit am Tag die Rede. Und da die deutschen und die bulgarischen Pflegekräfte-Vermittler noch einen weiteren Vertrag untereinander abgeschlossen hatten, ahnten weder die Familie noch Dobrina D., dass ihre Vorstellungen über den Umfang der Dienstleistung bald aufeinanderprallen würden.
Vertreter von Vermittlungsagenturen meinen, dass eine klassische Anstellung als Arbeitnehmer bei häuslicher Betreuung mit Versicherung und 38,5-Stunden-Woche nicht möglich sei. "Dann ist dieses Modell tot", sagt Frederic Seebohm, Geschäftsführer des Bundesverbandes für Häusliche Betreuung und Pflege. "Man müsste dann drei bis vier Vollzeitstellen für eine zu pflegende Person schaffen. Das sind 15.000 Euro Kosten im Monat." Er fürchte, so Seebohm, dass damit das Problem nicht gelöst werde, sondern mehr Schwarzarbeit entstehe.
"Offensichtlicher Handlungsbedarf" der Politik
Das Interesse, das Dobrina D. mit ihrer Klage ausgelöst hat, zwingt auch die Politik zum Handeln. "Das Thema Mindestlohn ist eigentlich der Katalysator, der zeigt, dass man sich der 24-Stunden-Betreuung unbedingt widmen muss. Der Handlungsbedarf ist wahnsinnig komplex, aber offensichtlich", sagt der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung Andreas Westerfellhaus (CDU) gegenüber der DW. "Das muss zu einem Megathema der Politik werden." Die Verantwortung für eine "rechtssichere Lösung" sieht er "bei der nächsten Bundesregierung".
Bis dahin wird der Rechtsstreit zwischen Dobrina D. und ihrer ehemaligen Agentur weitergehen. Und das LAG Berlin wird gründlich erforschen müssen, wie viele Stunden die Bulgarin tatsächlich an Arbeits- und Bereitschaftszeit geleistet hat. Das kann schwierig werden: Der Einsatz der Pflegerin liegt sechs Jahre zurück und die betreute Dame ist mittlerweile verstorben.
Die Gewerkschafter, die Dobrina D. vertreten, weisen unter anderem auf einen typischen Tagesablauf hin, den die Klägerin für die Klageschrift verfasst hat. Der soll nun die ganztägige Bereitschaft bestätigen. Der Anwalt der Vermittlungsagentur hingegen meint, dass man eventuell erst Zeugen vernehmen müsse, um Dobrina D.s Angaben überprüfen zu können.
Immerhin haben die Bundesrichter ihren Kollegen in Berlin einen Hinweis gegeben. In der Pressemitteilung zum Urteil stellen sie fest: "Dass die Klägerin mehr als die im Arbeitsvertrag angegebenen 30 Stunden/Woche zu arbeiten hatte, dürfte - nach Aktenlage - nicht fernliegend sein."
(Az: 5 AZR 505/20)