Klinik-Beschuss ein Kriegsverbrechen?
4. Oktober 2015Der verheerende Beschuss der Klinik in Kundus im Norden Afghanistans sei "absolut tragisch, unentschuldbar und vielleicht sogar kriminell", erklärte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Seid al-Hussein. Er forderte eine unabhängige und transparente Untersuchung. Dieser Luftangriff auf ein Krankenhaus "könnte ein Kriegsverbrechen darstellen", sollte er vor Gericht als vorsätzlich beurteilt werden, so der UN-Vertreter. Denn, so al-Hussein: Die "internationalen Militärstrategen sind verpflichtet, die Zivilbevölkerung zu schützen."
Auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon verurteilte die Bombardements in scharfer Form. Er verlangte eine gründliche Aufklärung, um festzustellen, wer verantwortlich sei.
Bei den Luftschlägen auf Ziele in der Provinzhauptstadt hatten amerikanische Kampfflugzeuge offensichtlich aus Versehen die Einrichtung der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" (MSF) getroffen. Mindestens 19 Menschen wurden getötet. Es handele sich um zwölf MSF-Mitarbeiter und sieben Patienten, darunter auch drei Kinder, berichtete MSF-Sprecherin Christiane Winje am Samstagabend in Berlin. Weitere 37 Menschen, darunter 19 Mitarbeiter, wurden laut ihren Angaben verletzt.
US-Präsident Barack Obama und sein Verteidigungsminister Ashton Carter sprachen von einem "tragischen Vorfall". Carter erklärte, zum Zeitpunkt des Beschusses hätten US-Kräfte und Taliban-Kämpfer in der Nähe operiert. "Während wir noch herauszufinden versuchen, was genau passiert ist, möchte ich allen Betroffenen sagen, dass ich ihnen meine Gedanken und Gebete widme", hieß es in einer schriftlichen Mitteilung. "Eine volle Untersuchung des tragischen Vorfalls ist in Abstimmung mit der afghanischen Regierung im Gange", so der Pentagon-Chef. Obama sagte, er wolle abwarten, was die Recherchen ergeben.
Kundus war am Montag überraschend in die Hände der radikalislamischen Aufständischen gefallen. Seitdem versuchen Regierungstruppen mit Hilfe der NATO, die Stadt wieder komplett unter Kontrolle zu bekommen.
Die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" gibt sich mit den Erklärungen der USA und ihrer afghanischen Partner nicht zufrieden. "Diese Attacke ist eine abscheuliche und schwere Verletzung internationalen humanitären Rechts", sagte MSF-Präsident Meinie Nicolai. "Wir können es nicht hinnehmen, dass dieser schreckliche Verlust von Menschenleben einfach als 'Kollateralschaden' abgetan wird." Alle Anzeichen deuteten daraufhin, dass die Bombardierung durch das Bündnis der internationalen Streitkräfte erfolgt sei.
Nach Angaben von MSF wurden allen Konfliktparteien die genauen Geodaten ihrer Einrichtungen vorsorglich mehrfach übermittelt, zuletzt am 29. September. Nach Beginn des nächtlichen Angriffs habe man zudem das amerikanische und afghanische Militär erneut kontaktiert; dennoch habe das Bombardement noch mehr als 30 Minuten angehalten.
Seit Montag wurden nach Angaben von "Ärzte ohne Grenzen" in dem Hospital 394 Verletzte behandelt. Zum Zeitpunkt des Luftangriffs seien 105 Patienten, Angehörige und gut 80 Mitarbeiter in dem Gebäude gewesen. Die Klinik wird ausschließlich aus Spenden finanziert und behandelt jeden - unabhängig von Herkunft oder Religion.
"Ärzte ohne Grenzen" zieht sich aus Kundus zurück
Die Hilfsorganisation kündigte als Konsequenz aus der Bombardierung ihres Krankenhauses die Aufgabe der Klinik an. Eine Sprecherin sagte am Sonntag, das Krankenhaus sei nicht mehr funktionsfähig, die verbliebenen Patienten seien an andere Einrichtungen weitergegeben worden. "Ärzte ohne Grenzen" arbeitet seit 1980 in Afghanistan, die Klinik in Kundus betreibt die Organisation seit rund fünf Jahren.
SC/wa (APE, afpe, dpa, epd)