Das (fehlende) Eingeständnis der Niederlage
9. November 2020In den USA ist das Eingeständnis der Wahlniederlage seit 1796 Teil der friedlichen Machtübergabe. Damals traten erstmals Parteien bei der Präsidentschaftswahl gegeneinander an und der Föderalist John Adams unterlag Thomas Jefferson von der Demokratisch-Republikanischen Partei.
Die Tradition, eine Wahlniederlage auch öffentlich zu akzeptieren, begründete 1896 der Demokrat William Jennings Bryan. Nachdem er die Präsidentschaftswahl gegen den Republikaner William McKinley verloren hatte, verschickte Bryan ein Glückwunschtelegramm mit dem Wortlaut: "Ich beeile mich, meine Glückwünsche auszusprechen. Wir haben die Frage dem amerikanischen Volk vorgelegt und sein Wille ist Gesetz."
Der republikanische Präsident Donald Trump - ein prozessfreudiger Mann, der nie eine Niederlage zugibt - hat die diesjährige US-Präsidentschaftswahl als "Betrug" bezeichnet und angekündigt, mit allen juristischen Mitteln gegen das Ergebnis vorzugehen, um an der Macht zu bleiben. Diese Äußerungen lassen vermuten, dass er die Tradition der öffentlichen Anerkennung der Wahlniederlage als Teil der friedlichen Machtübergabe möglicherweise nicht fortführen wird.
Eine Frage der Höflichkeit, keine Pflicht
Weder Recht noch Verfassung verpflichten einen Präsidentschaftskandidaten oder einen amtierenden Präsidenten, seine Wahlniederlage in Form der traditionellen Concession Speech, der Rede des Verlierers, anzuerkennen. Vielmehr ist es ein höflicher Brauch. Weil dies auch der Moment ist, in dem ein Kandidat seinen Unterstützern mitteilt, dass die andere Seite gewonnen hat und der Wahlkampf vorbei ist, sind diese Reden ein zentrales Element des dramatischen politischen Theaters, das bei einer US-Präsidentschaftswahl dazugehört.
Seit William Jennings Bryan 1896 sein Telegramm verschickte, hat der technologische Fortschritt die Rolle dieses Rituals geprägt. Wochenschauen und Radio-Ansprachen machten die Worte der Wahlverlierer einem immer größeren Publikum bekannt. Doch kein anderes Medium stellte sie so sehr in den Vordergrund und prägte sie als Teil eines Drehbuchs wie das Fernsehen. Seit 1952, als der Demokrat Adlai Stevenson seine Rede hielt, nachdem er gegen den Republikaner Dwight D. Eisenhower verloren hatte, ist das Fernsehen das dominierende Medium gewesen, um diese Statements zu veröffentlichen.
Dem öffentlichen Eingeständnis der Wahlniederlage geht in der Regel ein privates Telefonat zwischen den Kandidaten voraus. 2016 sprach die Demokratin Hillary Clinton in der Wahlnacht mit Donald Trump, bevor sie am nächsten Tag öffentlich ihre Unterstützer ansprach: "Donald Trump wird unser nächster Präsident sein. Wir schulden ihm Unvoreingenommenheit und eine Chance zu führen. Die friedliche Machtübergabe ist in unserer konstitutionellen Demokratie verankert. Wir respektieren das nicht nur. Wir schätzen es."
"Um der Stärke unserer Demokratie willen..."
Im Jahr 2000 lief das Schauspiel dagegen nicht nach Plan. Als die Fernsehsender den Wahlsieg des Republikaners George W. Bush in der Wahlnacht verkündeten, rief ihn der Demokrat Al Gore an, um seine Niederlage anzuerkennen und ihm seine Glückwünsche auszusprechen. Doch dann kam es zur Kontroverse um Florida, wo die Wahl als zu knapp eingestuft wurde, um den Bundesstaat einem der beiden Kandidaten zuzusprechen. Das bundesstaatliche Recht schriebt eine Neuauszählung der Stimmen vor. Innerhalb einer Stunde rief Gore Bush wieder an und zog in einem hitzigen Gespräch die Anerkennung seiner Niederlage zurück.
Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten stoppte schließlich am 12. Dezember 2000 die Neuauszählung und machte George W. Bush damit zum Präsidenten. Einen Tag danach stellte sich Al Gore vor Journalisten und sagte: "Vor wenigen Augenblicken habe ich mit George W. Bush gesprochen, um ihm zu gratulieren, dass er zum 43. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden ist. Und ich habe ihm versprochen, dass ich ihn dieses Mal nicht zurückrufen werde."
Obwohl er der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vehement widersprach, sagte Gore den Zuschauern: "Um unserer Einheit als Volk und der Stärke unserer Demokratie willen erkenne ich meine Niederlage an."
Er zitierte auch eine Passage aus der Rede, die der demokratische Senator Stephen Douglas 1860 hielt, als dieser gegen den Republikaner Abraham Lincoln verlor: "Parteitreue muss Patriotismus weichen. Ich stehe hinter Ihnen, Herr Präsident, und Gott segne Sie."
Beschwörung von Einheit und Demokratie
Die Tradition verlangt, dass der Wahlverlierer in seiner Rede vier Leitgedanken formuliert: Er soll seine Niederlage akzeptieren, zur Einheit aufrufen, die Demokratie feiern und geloben, den Kampf weiterzuführen. Würde und Ersthaftigkeit sind dabei wichtig - schließlich bekräftigt der Kandidat oder die Kandidatin gegenüber dem Land und seinen oder ihren Unterstützern, dass der harte Wahlkampf vorbei ist und die US-Amerikaner nun versuchen sollen, Gräben zu überwinden und sich zum größeren Wohl des Landes zusammenzuschließen.
Doch nicht jeder gibt sich würdevoll geschlagen. Trumps republikanischer Vorgänger Richard Nixon hielt eine berüchtigt missgünstige Rede, als er 1962 die Gouverneurswahl in Kalifornien gegen den Demokraten Pat Brown verlor, und verließ die Pressekonferenz mit den Worten: "Sie werden Nixon nun nicht mehr herumschubsen können, denn, meine Herren, dies ist meine letzte Pressekonferenz." Nixon bewies, dass die Anerkennung einer Wahlniederlage nicht gleich Aufgeben bedeutet und trat danach noch regelmäßig in der Rolle des Austeilenden und Einsteckenden auf die politische Bühne, bevor er 1974 als US-Präsident endgültig schmachvoll zurücktrat.
Die Leidenschaft der beiden Parteilager und die tiefe Spaltung, die die Präsidentschaftswahl 2020 geprägt haben, scheinen nach einem tief empfundenen Appell zur Einheit in einem gespaltenen Land zu verlangen. Der Demokrat und zukünftige Präsident Joe Biden hat immer wieder gesagt, er werde den Willen des Volkes in einer freien und fairen Wahl respektieren, und er hat zur Ruhe und Einheit aller US-Amerikaner aufgerufen. In seiner Siegesrede am Samstag schlug er den gleichen Ton an.
Die Tatsache, dass sich Donald Trump sowohl 2016 als auch in diesem Jahr standhaft geweigert hat zu versprechen, die Wahlergebnisse im Fall einer Niederlage anzuerkennen, und die Emotionen, die er bei seinen Unterstützern hervorruft, während er die Wahl als Betrug verleumdet - all das deutet nicht unbedingt auf einen würdevollen Abgang hin. Aber vielleicht bekommen wir wenigstens einen Tweet mit dem Eingeständnis der Niederlage - sollte sein Twitter-Konto nicht gesperrt werden.