USA und EU rügen Massenfestnahmen in Russland
24. Januar 2021"Die Vereinigten Staaten verurteilen ausdrücklich das harsche Vorgehen gegen Demonstranten und Journalisten an diesem Wochenende", erklärte der neue Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price. Man rufe die russischen Behörden auf, "all diejenigen freizulassen, die ihre universellen Rechte ausgeübt haben." Die US-Regierung fordere zudem "die sofortige und bedingungslose Freilassung" von Alexej Nawalny. Außerdem müsse Russland bei der internationalen Untersuchung des Giftanschlags auf den prominenten Oppositionspolitiker "vollständig kooperieren" und "die Verwendung einer Chemiewaffe auf seinem Boden glaubwürdig erklären".
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell verurteilte auf Twitter die massenhaften Festnahmen sowie "den unangemessenen Einsatz von Gewalt". Er kündigte an, die EU-Außenminister würden am Montag die nächsten Schritte diskutieren. Der britische Außenminister Dominic Raab kritisierte ebenfalls die Anwendung von Gewalt "gegen friedliche Demonstranten und Journalisten". Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International merkte an, viele "friedliche" und junge Demonstranten seien willkürlich geschlagen und festgenommen worden.
Beispiellose Kette von Protestaktionen
In einer beispiellosen Protestwelle haben Zehntausende Menschen in ganz Russland für die Freilassung des Kremlkritikers Alexej Nawalny und gegen Präsident Wladimir Putin demonstriert. Sie waren einem Protestaufruf Nawalnys gefolgt. Allein in Moskau versammelten sich nach Schätzungen von Reportern mindestens 40.000 Anhänger des Oppositionspolitikers zu einer der größten unerlaubten Demonstrationen seit Jahren. Das Innenministerium sprach dagegen von 4000 Demonstranten. In Moskau kam es zu Zusammenstößen der Polizei mit Demonstranten, dabei gab es Dutzende Verletzte. In St. Petersburg versammelten sich etwa 20.000 Demonstranten.
Die Polizei ging vielfach gewaltsam gegen die Proteste in rund 100 Städten vor und nahm nach Angaben der Beobachtergruppe OVD-Info landesweit 3068 Menschen fest, davon allein 1167 in Moskau und 460 in St. Petersburg. In Moskau nahmen Polizisten auch Nawalnys Ehefrau Julia vorübergehend in Gewahrsam. Nawalnys Mutter Ljudmila nahm ebenfalls an der Demonstration teil.
Demos in 100 Städten
Auch in rund 100 anderen Städten gingen Unterstützer Nawalnys auf die Straße. Größere Demonstrationen und gewaltsame Festnahmen gab es auch in Wladiwostok und Chabarowsk im Fernen Osten. In Sibirien trotzten Demonstranten extrem winterlichen Temperaturen von minus 50 Grad. Wegen der Corona-Pandemie werden in Russland schon seit Monaten keine Kundgebungen mehr genehmigt. Menschenrechtler sehen das als Vorwand, um die Opposition zum Schweigen zu bringen.
Derart weitreichende Demonstrationen sind in der jüngeren Geschichte Russlands selten. Größere Proteste der Opposition beschränkten sich 2012 und 2019 vor allem auf Moskau. Im Herbst sind in Russland Parlamentswahlen geplant, die Kreml-Partei Geeintes Russland hat derweil massiv an Unterstützung verloren.
Putin als Dieb beschimpft
Nawalnys Team verbreitete den ganzen Tag über Videos von Kundgebungen, die in den verschiedenen Landesteilen stattfanden. Kundgebungsteilnehmer riefen "Putin - Dieb!", "Nawalny - wir sind bei dir!" und "Freiheit für die politischen Gefangenen!" Leonid Wolkow, ein Mitarbeiter Nawalnys, erklärte im YouTube-Kanal Nawalny Live, landesweit seien "250.000 bis 300.000 Menschen" auf die Straße gegangen. Er kündigte für das kommende Wochenende neue Proteste an.
"Putin und die Oligarchen haben Angst, ihre Pfründe zu verlieren", sagte die 71-jährige Rentnerin Vera Spiwakowa in Moskau. Dort gingen Polizisten am Nachmittag wiederholt mit Schlagstöcken gegen Demonstranten vor, die Schneebälle, aber auch andere Gegenstände warfen.
Am frühen Abend zogen hunderte Anhänger Nawalnys zum berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis Matrosskaja Tischina, in dem Nawalny festgehalten wird. In Sprechchören riefen sie "Freiheit!", wie ein Reporter der Nachrichtenagentur afp meldete. Einige Demonstranten wurden festgenommen, mit Schlagstöcken traktiert und vertrieben.
Vorwürfe gegen die USA
Die russische Regierung warf US-Diplomaten vor, sich in die Massenproteste aktiv eingeschaltet zu haben. Die US-Botschaft in Moskau habe Marschrouten veröffentlicht, die von den Anhängern Nawalnys genutzt werden konnten, schrieb die Außenamtssprecherin Maria Sacharowa auf Facebook. US-Diplomaten hätten auch Informationen über einen "Marsch auf den Kreml" verbreitet.
Nawalny war vor einer Woche nach seiner Rückkehr aus Deutschland in Moskau festgenommen worden. In Berlin war der 44-Jährige nach einem Giftanschlag im August behandelt worden, für den der Oppositionelle den Kreml verantwortlich macht. Dieser weist eine Beteiligung zurück. Am Montag verhängte ein russisches Gericht in einem Eilverfahren 30 Tage Haft gegen ihn wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen. Nawalny und seine Anhänger werfen dem Kreml unter anderem Korruption vor. Diese Woche hatte Nawalnys Team eine Recherche über einen Luxus-Palast am Schwarzen Meer veröffentlicht, der angeblich Putin gehören und durch Bestechungsgelder finanziert worden sein soll. Das Video wurde seit Dienstag mehr als 70 Millionen Mal auf YouTube angesehen. Der Kreml hat die Vorwürfe als Unsinn zurückgewiesen. Doch auch Tage nach der Veröffentlichung des Videos mit 70 Millionen Aufrufen bis Samstagnachmittag hat sich noch niemand zu dem Grundstück am Schwarzen Meer bekannt.
Auch im Ausland versammelten sich Nawalny-Anhänger vielerorts zu Protestaktionen, unter anderem in der finnischen Hauptstadt Helsinki und im polnischen Warschau. In Deutschland demonstrierten viele Menschen ebenfalls für die Freilassung Nawalnys. In Berlin zogen rund 2000 Menschen in einem Protestzug an der russischen Botschaft vorbei. In Düsseldorf demonstrierten auf dem Marktplatz 200 Menschen für den Kreml-Kritiker.
kle/ack (afp, rtr, dpa)