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Venezuelas Rolle ohne Chávez

Mirjam Gehrke7. März 2013

Die lateinamerikanische Linke hat ihre Ikone - und ihren Finanzier - verloren. Während Kuba, Nicaragua und andere Länder dramatische wirtschaftliche Folgen fürchten, setzen die USA auf einen Neuanfang in den Beziehungen.

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Chavez-Anhänger trägt T-Shirt mit der Aufschrift "Chavez geht nicht" (Foto: Reuters)
Bild: Reuters

Mit Hugo Chávez hat nicht nur Venezuela sein Staatsoberhaupt verloren, sondern auch die gesamte Linke in Lateinamerika beklagt den Verlust ihrer Identität stiftenden Ikone. Auch für etliche Länder, vor allem in Mittelamerika und der Karibik, war Chávez in erster Linie ein überlebenswichtiger wirtschaftlicher Verbündeter.

Hugo Chávez sei "zu einem sehr einflussreichen Akteur in der Region geworden, mit einem Anspruch auf hegemoniale Vorherrschaft in Lateinamerika", bilanziert die Lateinamerika-Expertin Bettina Schorr von der Freien Universität Berlin im DW-Interview. "Das hat er sehr aktiv vorangetrieben durch die Gewährung von verbilligten Öllieferungen an Kuba bzw. an andere zentralamerikanische Länder."

Ein Straßenhändler verkauft Gemüse in Santa Clara, Kuba
Die kubanische Wirtschaft hängt am Tropf der Öllieferungen aus VenezuelaBild: picture-alliance/dpa

Billiger Ölversorger der Region

Allein Kuba erhält täglich 100.000 Barrel verbilligtes Öl aus Venezuela - und kann damit zwei Drittel seines Bedarfs decken. Sollte Venezuela aufgrund der eigenen Wirtschaftsprobleme diese Lieferungen einstellen, "wäre das dramatisch für Kuba", so der kubanische Wirtschaftswissenschaftler und Oppositionelle Oscar Espinosa Chepe gegenüber der DW. "Dann wäre die Situation schlimmer als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre", befürchtet er.

Damals verlor Kuba auf einen Schlag 85 Prozent seines Außenhandels. Der Mangel an Treibstoff und Rohstoffen legte die Landwirtschaft und den Verkehr auf Kuba praktisch vollständig lahm. Fidel Castro rief damals die sogenannte "Sonderperiode in Friedenszeiten" aus, um die Bevölkerung auf harte wirtschaftliche Einschnitte vorzubereiten. Ende der neunziger Jahre erholte sich die kubanische Wirtschaft, die seitdem am Öltropf aus Caracas hängt.

Im Gegenzug arbeiten 30.000 kubanische Ärzte sowie 15.000 Lehrer und weitere Akademiker in Venezuela in der Gesundheitsversorgung und in der Schulbildung in den Armenvierteln. Fünf Milliarden Dollar hat Venezuela allein 2011 für diesen Deal nach Havanna überweisen. Das übersteigt die einzelnen Summen der Auslandsüberweisungen von Exil-Kubanern, die Einnahmen aus dem Tourismus oder aus dem Nickel-Export.

Regionale Integration Lateinamerikas

Kuba ist eines von 18 Mitgliedsländern des Petrocaribe-Abkommens, das Chávez 2005 auf den Weg gebracht hat und über das die Saaten der Karibik und Mittelamerikas verbilligte Erdöllieferungen von Venezuela erhalten. "Durch die Schaffung regionaler Organisationen hat Chávez im Grunde den einzigen Zweck verfolgt, ein Gegengewicht gegen die Vorherrschaft der US-Amerikaner in der westlichen Hemisphäre zu schaffen", meint Bettina Schorr.

Zu diesen regionalen Organisationen zählen der südamerikanische Staatenbund UNASUR, die Staatengemeinschaft Lateinamerikas und der Karibik (CELAC) sowie das Wirtschaftsbündnis ALBA, das als Gegenentwurf zu der von den USA angestrebten gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA aus der Taufe gehoben wurde. All diese Bündnisse haben zwar den direkten Einfluss der USA auf die südlichen Nachbarn nicht geschmälert und bilaterale Freihandelsabkommen nicht blockiert. Aber sie haben zu einem eigenständigen politischen Dialog in Lateinamerika geführt, der sich von der US-dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) emanzipiert hat. Diese Entwicklung wird sich auch ohne Hugo Chávez fortsetzen.

Venezuela wird in dreißig Tagen einen neuen Präsidenten wählen. Ob sein Nachfolger auch die hinterlassene Lücke schließen kann, die Chávez' Tod für die gesamte Linke Lateinamerikas bedeutet, darf bezweifelt werden. Die Präsidenten von Nicaragua, Ecuador und Bolivien verfügen weder über das Charisma geschweige denn über die Petrodollar-Milliarden, mit denen Chávez seine Visionen von einem Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela und darüber hinaus finanzieren konnte.

Die argentinische Präsidentin Cristina Fernández und die Staatschefs von Uruguay und Bolivien, José Mujica und Evo Morales stehen am Sarg der verstorbenen Präsidenten von Venezuela, Hugo Chávez (Foto: Reuters)
Die lateinamerikanische Linke hat mit Hugo Chávez ihre politische Ikone verlorenBild: Reuters

Business as usual

Unter dem Eindruck der Anschläge des 11. September 2001 haben die USA ihr Engagement in Lateinamerika zugunsten der Kriege gegen den Irak und Afghanistan vernachlässigt. Die südlichen Nachbarn haben diese Entwicklung genutzt, um ihren eigenen außenpolitischen Handlungsspielraum zu erweitern und die Beziehungen zu China und Russland zu vertiefen.

Hugo Chávez und seine verbalen Attacken auf "das Yankee-Imperium" sollte man diesem Kontext jedoch nicht überbewerten, sagt Bettina Schorr: "Das sind eher symbolische Manöver, um ein Feindbild zu erhalten, und die eigenen Anhänger auf Linie zu halten." Denn trotz der diplomatischen Eiszeit seien "die ökonomischen Beziehungen zwischen Venezuela und den USA seit jeher sehr eng" gewesen. Daran habe sich auch während der Regierungszeit von Hugo Chávez nichts geändert, betont Lateinamerika-Expertin Schorr: "Im Gegenteil, die geschäftlichen Beziehungen sind sogar intensiver geworden."

Obama und Chávez beim Amerika-Gipfel in Trinidad und Tobago 2009 (Foto: Reuters)
Auch unter Obama gelang keine Annäherung zwischen den USA und VenezuelaBild: Reuters

Die USA sind der wichtigste Handelspartner Venezuelas. 2012 belief sich der Warenaustausch auf einen Gesamtwert von knapp 20 Milliarden Dollar. Die Hälfte der venezolanischen Ölexporte gehen in die USA, wo sie fünf Prozent der Gesamteinfuhren ausmachen. "Die venezolanische Ölindustrie hat ein massives Problem, da in den letzten Jahren nicht investiert worden ist und die Produktionszahlen zurückgegangen sind", gibt Bettina Schorr zu bedenken. Daher wäre es "ungünstig, es darauf ankommen zu lassen, so einen großen Abnehmer wie die Vereinigten Staaten zu verärgern."

Präsident Obama hat nach dem Tod von Chávez bereits das Interesse der USA bekundet, die Beziehungen zu Venezuela zu verbessern. Solange die Geschäfte aber auch trotz diplomatischer Spannungen gut laufen, wird das südamerikanische Land nicht zu den ersten Prioritäten in der US-Außenpolitik aufsteigen.