Verfeindete Nachbarn
10. Juni 2009Heute ist der Stacheldraht aufgerollt. In dicken Bündeln liegt er links und rechts neben der kleinen Straße. Die Bündel bedeuten: Die Grenze ist offen. Eine Grenze, die mitten durch die kleine Stadt Rahovec führt. Auf dem Berg leben die Serben, unten im Tal die Albaner. Dazwischen liegt ein Straßenzug mit verbrannten und zerstörten serbischen Häusern - und der Stacheldrahtzaun. Wenn Eskalation droht, ziehen die KFOR-Soldaten ihn zu, im Alltag steht er offen - damit sich die Menschen kennen lernen können.
Jugendliche zusammenbringen
Die deutsche Stiftung "Schüler helfen Leben" hat in Rahovec zwei Jugendzentren aufgebaut, um die Verständigung zwischen jungen Serben und Albanern zu fördern. Eines steht im serbischen, das andere im albanischen Teil der Stadt. Dort arbeitet Tomasz Bielecki. Der junge Deutsche, der ein freiwilliges soziales Jahr im Kosovo macht, wollte sehen, was hinter den Nachrichten steckt, wie es im Kosovo wirklich zugeht. Deswegen stieg der 27-jährige Politikstudent aus Hamburg vor acht Monaten in einen Bus Richtung Balkan. Er landete in Rahovec, einer für ihn völlig neuen Welt.
"Am Anfang habe ich mich mit Händen und Füßen verständigt", erzählt Tomasz Bielecki lachend. "Aber es ging, die Menschen hier sind unglaublich gastfreundlich. Und mittlerweile bin ich zwar auf meinem Ausweis ein Deutscher – aber mit dem Herzen bin ich schon längst ein halber Albaner."
Lieben lernen
Tomasz' Aufgabe ist schwer: Er soll Begegnungen zwischen den verfeindeten Volksgruppen schaffen. Das sei eine große Herausforderung, auch heute noch, sagt Tomasz Kollege Rodoljub. "Manche Jugendliche leben immer noch im Krieg, weil die Eltern so tun, als hätten wir noch eine Situation wie vor zehn Jahren", erzählt er. "Das ist schade, aber normal. Dieses Land ist in einem Wandlungsprozess, wir brauchen Zeit, um einander lieben zu können."
Elmedin ist gerade 16 Jahre alt. Der schmächtige Junge ist Albaner und ein kleiner Nationalist. Lieben will er die Serben niemals, im Gegenteil: "Ich hasse sie. Die Serben haben im Krieg versucht, uns das Land wegzunehmen", sagt er wütend. "Die Serben sollen in ihr Land gehen. Ich will, dass in dieser Stadt nur Albaner leben. Ich habe den Kosovo noch nie verlassen, denn ich liebe dieses Land." Aber Elmedin hat ein Problem: Rodoljub, sein Betreuer im Jugendhaus, ist Serbe. Und Elmedins Liebe zum Jugendhaus ist im Zweifelsfall größer als sein Hass auf die Serben.
Nachbarn werden
Die Mitarbeiter wollen den Jugendlichen Perspektiven bieten im Alltag - grenzübergreifend. Auch Tomasz versucht, zur Verständigung zwischen den Völkern beizutragen: Er arbeitet im albanischen, lebt aber im serbischen Teil. Sein größter Erfolg war, dass ihn sein albanischer Freund mittlerweile zu Hause besuchen kommt. Tomasz ist zuversichtlich, dass es möglich ist, Verständigung zwischen Serben und Albanern aufzubauen: "Man muss die Menschen nur zusammenbringen. Dann stellen sie von allein fest, dass sie einander gar nicht mehr so fern sind. Sie könnten genauso gut wieder Nachbarn werden."
Auch den Jugendlichen sieht man den Unterschied nicht an: Sie tragen die gleichen coolen Klamotten, hören ähnliche Musik und haben die gleichen Probleme: Perspektivlosigkeit, Arbeitslosigkeit, schlechte Schulbildung, zu viel Zeit. Dagegen möchte Tomasz etwas tun. Er gibt Sprach- und Computerkurse und macht Sport mit den Jugendlichen. Darüber bringt er die beiden Völker zusammen: Um zu den Fitnessgeräten zu kommen, müssen die Albaner in den serbischen Teil. Um im Internet surfen zu können, ist es andersrum.
Von der Angst zur Freiheit?
Noch gibt es nur erste zaghafte Beispiele, vorsichtige Annäherung. Denn immer noch ragen die Ruinen der serbischen Häuser aus dem Stadtbild, die die Albaner vor zehn Jahren niedergebrannt haben. Noch immer hat die albanische Moschee ein riesiges Einschussloch im Minarett. Und noch immer rollt sich an der Grenze der Stadtteile der Stacheldraht. Es ist die Angst vor der anderen, fremden Seite, die die Menschen trennt. Das erlebt auch der junge Albaner Berat. Er hat einige serbische Freunde. "Aber sie haben Angst, in den albanischen Teil zu kommen", erzählt er. "Sie fürchten, dass wir Albaner ihnen was tun."
So ging es auch dem Serben Rodoljub aus dem Jugendzentrum. Mittlerweile kommt er täglich in den albanischen Teil - und noch nie ist etwas passiert. Aber die ersten Male war er sehr nervös. "Ich bin nie in den albanischen Teil gelaufen, sondern immer mit dem Auto gefahren und immer in Begleitung von Albanern, damit mir nichts passiert", erzählt er. "Aber das hat sich mit der Zeit geändert. Jetzt bin ich frei.
Jemand hat mit Kreide Friedenstauben auf die grauen Mauern gemalt, die den albanischen vom serbischen Teil trennen. Die Menschen auf beiden Seiten eint der Wunsch nach Frieden, nach einem Leben ohne Armut. Doch eines müssen sie wieder lernen, zehn Jahre nach dem Krieg: Nachbarn zu sein.
Autorin: Anna Kuhn-Osius
Redaktion: Julia Kuckelkorn