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Vergangenheitsbewältigung auf Serbisch

16. April 2009

Belgrad tut sich schwer bei der Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Erbe, finden Kritiker. Das belastet auch den Neuanfang der demokratischen Gesellschaft Serbiens.

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Titos Erbe: AktenbergeBild: Bilderbox

Niemand weiß wirklich genau, wie viele Akten es sind, die die jugoslawische Geheimpolizei UDBA des früheren jugoslawischen Präsidenten Tito zusammengestellt hat.

Schon 1969 hatte man sich die Mühe gemacht, die Archive zu überprüfen. Ergebnis: 9.620 laufende Meter, voll gestopft mit Ordnern. Davon wurden bereits damals 5.500 Meter vernichtet. Übrig geblieben sind immerhin etwa 600.000 Akten.

Als Anfang der 90er Jahre Jugoslawien in verschiedene Staaten zerfiel, gelangte der größte Teil der Unterlagen in die Hände des serbischen Geheimdienstes DB, die Drzavna bezbednost, zu deutsch „Staatssicherheit“. Die Akten, die in den Keller des serbischen Staatsarchivs gebracht wurden, blieben dennoch weitgehend der Öffentlichkeit unzugänglich, sagt Rodoljub Sabic, Beauftragter der serbischen Regierung für öffentliche Informationen: „Die Dokumente wurden einfach dorthin gebracht: Es fand keine ordentliche Übergabe statt, es wurden weder die Sicherheitsbestimmungen noch die Archivierungsregeln eingehalten. Das Problem wurde nur von einem in einen anderen Keller verlegt.“ Wie viele Akten während der Diktatur des früheren serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic hinzu kamen, auch das ist unklar.

Recht auf Akteneinsicht

Vladimir Jesic war ein aktives Mitglied der serbischen Widerstandsbewegung „Otpor“, die maßgeblich am Sturz Milosevics beteiligt war. Jesic selbst wurde während des Milosevic-Regimes mehrmals von der Polizei verhaftet. Nachdem Milosevic am 5. Oktober 2000 durch einen Volksaufstand gestürzt wurde, wollte Jesic erfahren, was in seiner Akte steht. Eine entsprechende rechtliche Grundlage war zwar per Verordnung der Regierung 2001 geschaffen worden, doch das war für Jesic wertlos: Seine Akte war verschwunden. „Ich fühlte mich vom Staat betrogen. Ich habe gedacht, die Öffentlichkeit würde erfahren, was dieses Regime gemacht hat. Schließlich war der Staat verpflichtet, uns die Akten zur Verfügung zu stellen, und zwar umgehend. Aber ich glaube, man hat nach dem 5. Oktober diese Dokumente verschwinden lassen“, vermutet Jesic.

Wo sind die Akten geblieben?

Solche Vorwürfe weist Goran Petrovic, erster Geheimdienstchef in Serbien nach dem Sturz von Milosevic, entschieden zurück: „Das ist Unsinn. Ich habe es schon tausendmal dementiert, aber die Legende von den Dossierverbrennungen lebt weiter.“ Petrovic bestreitet auch Anschuldigungen, wonach Akten einiger Regimegegner aus der Milosevic-Zeit vorsätzlich umgeschrieben worden seien: „Es hört sich so an, als ob ich damals hunderttausende Mitarbeiter gehabt hätte, um Unmengen an Akten zu verändern oder zu frisieren. Ich verstehe auch nicht, warum man dies hätte machen sollen.“

Das sieht Zoran Dragisic ganz anders. Er ist Professor für Politikwissenschaften in Belgrad. Er ist überzeugt, Dossiers seien in großem Stil vernichtet worden: „Wer weiß, was alles damals in der Staatssicherheit verbrannt wurde, nach dem Sturz von Milosevic. Ich glaube, dass die interessanten Akten vernichtet wurden. Viele Politiker wollten nicht, dass ihre alten Akten in die Öffentlichkeit gelangten“, sagt Dragisic. „Ich glaube, es würde sich zeigen, dass einige Menschen, die zu Titos Zeit von sich behaupteten, große Demokraten und Dissidenten zu sein, in Wirklichkeit Mitarbeiter des Geheimdienstes waren.“

Aufklärung heute noch möglich?

Zarko Korac, stellvertretender Ministerpräsident in der ersten Regierung nach Milosevic, führt hingegen aus, im Winter 2001 habe die neue Regierung von Premier Zoran Djindjic ganz andere Prioritäten gehabt, als sich mit Vergangenheitsbewältigung zu befassen. Zunächst sei es darum gegangen, existenzielle Probleme zu lösen: „Der Winter war kalt, und wir hatten keinen Strom. Daher lautete unsere dringendste Bitte an den Westen: Schickt uns Strom.“ Dagegen stand die Aufarbeitung und Aufklärung der Machenschaften des Milosevic-Regimes nicht an erster Stelle. Korac zufolge ist es dennoch heute noch nicht zu spät, eine Kommission zu gründen, die die Machenschaften der Geheimdienste unter die Lupe nehmen würden. Dazu gehöre auch, dass die bespitzelten Bürger Einsicht in ihre Akten bekämen.

Kein gutes Klima für einen Neuanfang

Rodoljub Sabic, Informationsbeauftragter der serbischen Regierung, meint dagegen, die Akteneinsicht hätte umgehend stattfinden müssen. Er sieht es als Versäumnis, dass nicht unmittelbar nach dem Sturz des Milosevic-Regimes die Vergangenheitsbewältigung thematisiert wurde. Dadurch, dass die Bürger keine Akteneinsicht nehmen konnten, sei die wahre Zielgruppe der Vergangenheitsbewältigung verfehlt worden, nämlich die Angehörigen und Mitarbeiter der Geheimdienste. Schließlich waren sie das Werkzeug und die Stützpfeiler des kommunistischen Regimes. Doch dafür wurden sie nie zur Rechenschaft gezogen und genau das sei das Problem, auf dem eine Art „Unkultur“ der Geheimnisse den Nährboden finde. Serbien habe dies schmerzlich erfahren müssen, als 2003 die junge Demokratie durch die Ermordung von Zoran Djindjic, dem ersten demokratisch gewählten Regierungschef, erschüttert wurde. Eine schwere Hypothek: Denn damals waren eben diese ehemaligen Mitglieder der berühmt berüchtigten „Roten Barette“, einer Eliteeinheit des Staatssicherheitsdienstes, die Drahtzieher des Attentats.

Autor: Dinko Gruhonjic / Mirjana Dikic

Redaktion: Birgit Görtz