Tunesiens Wahrheitskommission
11. November 2014"Die Revolution ist unser Leben. Wir waren innerlich fast tot. Sie hat uns das Leben zurückgegeben." Einer der ersten Schritte von Ibtihel Abdellatif nach dem 14. Januar 2011 war der Weg zur Uni. Dort schrieb sie sich nach mehr als zehn Jahren wieder ein und machte ihren Master in Religionswissenschaften. Presse, Meinung und Lehre sind nach Jahren der Diktatur auf einmal wieder frei. Es herrscht Aufbruchsstimmung, zahlreiche Organisationen werden gegründet, die lang unterdrückte Zivilgesellschaft blüht auf. Die 45-Jährige Abdellatif gründet 2011 mit einigen Mitstreiterinnen "Nisa' Tounsiat" (Tunesische Frauen), eine Nichtregierungsorganisation die sich um weibliche Folteropfer kümmert. Mehr als 200 Fälle dokumentieren sie - die meisten von ihnen gehören der islamistischen Opposition an, die unter Ben Ali am stärksten verfolgt wurde.
Drei Jahre später treffe ich Ibtihel Abdellatif zum Interview in einem kargen, ungenutzten Büro. Es riecht nach kaltem Zigarettenrauch. In einer leerstehenden alten Bankfiliale hat die tunesische Regierung die sogenannte Kommission für Wahrheit und Würde ihren Sitz. Ihre neun Mitglieder teilen sich fünf spärlich ausgestattet Räume in der obersten Etage des Bankgebäudes. Abdellatif wurde als Vertreterin der Zivilgesellschaft in die unabhängige Kommission gewählt, die fast sechzig Jahre Unterdrückungsgeschichte aufarbeiten soll. Folter, Berufsverbote und lange Haftstrafen trafen sowohl unter dem ersten Präsidenten Tunesiens nach der Unabhängigkeit, Habib Bourguiba, als auch unter Ben Ali viel Oppositionelle verschiedenster politischer Strömungen.
Euphorischer Aufbruch
"Am 14. Januar, als keiner wusste was passiert und wir nur ein altes Stück Brot zu Essen hatten, da war dieses Brot das beste, was ich je gegessen habe," beschreibt Ibtihel Abdellatif ihr Gefühl nach dem Ende der Diktatur und fügt hinzu: "Wir waren frei. Die Diktatur, die Unterdrückung und die Folter dürfen auf keinen Fall zurückkehren." Doch von der Befreiung aus der Diktatur bis zur Aufarbeitung und Versöhnung ist es noch ein weiter Schritt, die Übergangsjustiz eines der umstrittensten Themen der tunesischen Politik. Daran hat auch die im Sommer 2014 eingesetzte Kommission nichts geändert.
Abdellatif weiß, dass sie und ihre Kollegen leicht zum Spielball der Parteien werden können. Sie windet sich ein bisschen bei der Frage danach, zupft Kopftuch und Jacke zurecht. Über Politik redet sie nur noch ungerne, seit sie ihre neue Aufgabe angetreten hat. Vor allem der Partei Nidaa Tounes, die bei den Parlamentswahlen Ende Oktober die meisten Stimmen geholt hat, ist die Übergangsjustiz ein Dorn im Auge. Die Kommission sei in der Verfassung verankert, arbeite für die tunesischen Bürger und nicht für die Politik, wirft Abdellatif ein. Jeder Versuch, sie anzugreifen, wäre also ein Angriff auf die Verfassung, die ja von allen Parteien verabschiedet wurde, betont sie. Das wäre sehr gefährlich.
Kampf für die Würde der Opfer
Kritiker bezeichnen die Übergangsjustiz als Totgeburt, sie komme zu spät und sei zu politisiert. Die Wahrheitskommission muss viele Hindernisse überwinden. Auch durch interne Querelen wird ihre Arbeit erschwert. Unter den Opfern herrscht keine Einigkeit, wer Anspruch auf Wiedergutmachung hat. Immer wieder kommt es zu Reibereien zwischen den verschiedenen Lagern. Von linken Feministinnen über Regimegegner aus dem Exil und Vertretern, die wie Abdellatif eher den Islamisten nahe stehen, ist die Kommission bunt gemischt. Zwei Mitglieder sind bereits ausgetreten und mussten ersetzt werden. Doch inzwischen laufe die Arbeit, für politische Auseinandersetzungen sei kein Platz, versichert Ibtihel Abdellatif. "Im Gegenteil. Wir haben so eine große Aufgabe vor uns, da bleibt überhaupt keine Zeit, über so etwas zu streiten, was mit unserer eigentlichen Arbeit nichts zu tun hat.“
Wichtig sei es jetzt, den Opfern ihre Würde zurückzugeben, insistiert Abdellatif. Finanzielle Entschädigung sei denen, die unter der Dikatur gelitten haben, viel weniger wichtig als die Anerkennung ihres Schicksals. "Wir dürfen das Vertrauen in diese neue Instanz nicht verlieren." Die zahlreichen Anrufe von betroffenen Bürgern jeden Tag zeigten, dass viele große Hoffnungen haben. Abdellatif ist überzeugt: "Die Wahrheitskommission ist ein Symbol für die Würde, für Demokratie und Revolution."
Für die Älteste von fünf Schwestern ist ihre Arbeit in der Wahrheitskommission die logische Folge ihres Engagements für die Rechte der Opfer der Diktatur. Und es ist für sie auch eine Möglichkeit ein vorherrschendes Klischeebild von Musliminnen zu entkräften. "Ich bin verheiratet und habe drei Söhne, ich bin von Männern umgeben. Als ich gesagt habe, dass ich mich zivilgesellschaftlich engagieren werde, da haben sie mich unterstützt – und wäre das nicht der Fall gewesen, ich hätte es trotzdem getan", sagt Abdellatif selbstbewusst. Früher die NGO und ein Vollzeitjob, heute die Arbeit in der Wahrheitskommission, dazu dreimal die Woche Sport und Englischkurse. "Ich fühle, dass ich als Frau respektiert werde." Auch das ist für Ibtihel Abdellatif ein kleiner persönlicher Sieg.