"Keine deutsche Arroganz"
14. Oktober 2013Deutsche Welle: Herr Verheugen, das Ergebnis der Bundestagswahl hat Angela Merkel gestärkt. Voraussichtlich werden wir weitere vier Jahre mit ihr als Bundeskanzlerin haben. Ist das gut für Europa?
Günter Verheugen: Es ist auf jeden Fall gut für Europa, dass europafeindliche oder europaskeptische Kräfte bei dieser Bundestagswahl keinen Stich machen konnten. Mich besorgt zwar das relativ gute Abschneiden der Alternative für Deutschland und ich sehe auch die Gefahr, dass diese Partei bei der bevorstehenden Europawahl die Hürde schaffen könnte, aber grundsätzlich gilt für die Bundestagswahl, dass sie die Parteien bestätigt hat, die den deutschen europapolitischen Konsens tragen. Und die Tatsache, dass es eine andere Regierungskoalition geben muss, wird dazu führen, dass an der deutschen Europapolitik einige Korrekturen vorgenommen werden müssen. Man darf davon ausgehen, dass die deutsche Sparpolitik nicht mehr mit der Schärfe durchgesetzt oder gar durchgepeitscht werden wird, wie das in der Vergangenheit der Fall war. Es ist eine gute Nachricht für die Partnerländer in der Europäischen Union, dass der in der letzten Zeit unflexibel gewordene deutsche Kurs vielleicht wieder offener wird.
Europa ist derzeit so abhängig von der deutschen Politik wie seit vielen Jahren nicht mehr. Inwieweit beeinflusst diese Dominanz das Gemeinschaftsgefühl Europas?
Unsere Partner haben in der Tat das Gefühl einer deutschen Dominanz. Das gab es zu Zeiten von Helmut Kohl in gewissen Phasen auch, aber nicht in der Schärfe, wie wir das heute erleben. Unsere Partner haben alle das Gefühl, dass Deutschland seine wirtschaftliche Stärke einsetzt, um politische Ziele zu erreichen. Das stimmt so ja gar nicht. Der politische Ehrgeiz in Berlin ist ja gar nicht so furchtbar groß, aber so wird es empfunden, und das ist nicht gut für Europa.
Ich kann nur jedem deutschen Politiker raten, die Psychologie dieses Spiels sehr genau zu beachten und nie zu vergessen, dass Deutschland anders betrachtet und anders bewertet wird als jedes andere europäische Land. Die letzten zwei, drei Jahre haben es gezeigt, überall dort, wo Deutschland unpopuläre Maßnahmen angeblich im Alleingang durchgesetzt hat, haben sie dieselben Reaktionen gesehen: Hakenkreuze, Hitlerbilder. Wir sollten das nicht vergessen. Wir werden anders beurteilt und darum müssen wir uns auch anders verhalten.
Haben Sie das Gefühl, dass die handelnden Personen in der deutschen Politik diese Psychologie in ausreichendem Maße berücksichtigen?
Nein, den Eindruck habe ich überhaupt nicht. Im Gegenteil! Es ist in letzter Zeit sehr viel schlechter geworden. Ich will jetzt keine Einzelkritik vornehmen, aber ganz generell gilt, dass wir in Deutschland derzeit eine politische Führungsschicht haben, die an dieser Stelle offenbar einen blinden Fleck hat und das nicht klar genug sieht. Ich kann nur dringend dazu raten, auf jede Form von Gouvernantentum, Arroganz, Besserwisserei, auf jede Form von Belehrung und Zuchtmeisterei entschieden zu verzichten.
Nun ist es ja so, dass die deutschen Politiker ihren Wählern verpflichtet sind und viele Steuerzahler vermehrt fragen, ob man die krisengeschüttelten Länder weiter unterstützen sollte. Was würden Sie diesen Kritikern entgegnen?
Es ist vollkommen richtig, dass Politiker ihren Wählern verpflichtet sind. Zum Beispiel sind sie dazu verpflichtet, ihren Wählern die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit in diesem Falle ist, dass Deutschland überhaupt nicht der große Wohltäter in Europa ist, als der wir uns aufspielen, sondern dass Deutschland in Wahrheit sowohl politisch, aber ganz besonders auch wirtschaftlich der größte Nutznießer der europäischen Einigung ist. Was Deutschland als größter Nettozahler der Europäischen Union in die Gemeinschaftskasse einzahlt, fließt ja in Form von Aufträgen nach Deutschland mehrfach zurück.
Ich finde, das gehört zur Verantwortung des Politikers schon dazu, dass er den Wählerinnen und Wählern die Zusammenhänge erklärt. Die politische Führung insbesondere der Regierungsparteien hat es in Deutschland erlaubt, dass in den letzten Jahren eine regelrechte Verschmutzung der öffentlichen Meinung und des öffentlichen Diskurses eingetreten ist, was das Verhältnis zu unseren europäischen Nachbarn angeht. Es wurde ein Bild vermittelt, dass die Südländer Faulpelze seien, die den ganzen Tag in der Sonne liegen, nur Urlaub machen, sich ein Einkommen erschwindeln und das alles auf Kosten der armen fleißigen Deutschen. Diese Kommunikation hätte dezidiert gestoppt werden müssen und zwar von der Bundeskanzlerin selber. Das hat sie nicht getan und das werfe ich ihr vor.
Herr Verheugen, viele Experten sagen, die Lösung, um die Krise letztendlich in den Griff zu bekommen, sei eine politische Union Europas. Müssen wir also mehr Europa wagen, wie sehen Sie das?
Mehr Europa ist die Standardantwort der Leute, für die ich inzwischen nur noch den Ausdruck europäischer Hurra-Patriotismus habe. Wir brauchen europäische Regeln nur da - und ich unterstreiche dreimal das Wort nur, ausschließlich nur da -, wo der Nationalstaat aus objektiven Gründen die Leistungen nicht mehr erbringen kann, die unsere Bürgerinnen und Bürger im 21. Jahrhundert brauchen. Nur da brauchen wir europäisches Handeln, sonst nicht. Ich bin kein großer Anhänger der Idee einer politischen Union im Sinne eines europäischen Staates.
Eine politische Union als eine dichtere, wesentlich dichtere Form der politischen Integration als wir heute haben, das schon. Bevor man über einen nächsten großen Vertiefungsschritt redet, muss man ein paar Hausarbeiten erledigen und das Wichtigste davon ist, das Erscheinungsbild Europas, das negative Erscheinungsbild Europas zu ändern.
Zu einem verbesserten Bild der Europäischen Union gehört eine Stärkung der Außenpolitik. Wirtschaftlich, so heißt es, sei die EU ein Riese, wenn das noch so stimmt. Außenpolitisch ein Zwerg. Würden Sie diese Aussage so unterschreiben?
Ja, mit einer kleinen Einschränkung. Wir sind nicht mehr so ganz der wirtschaftliche Riese, weil es inzwischen auch andere gibt. Wir sind nicht kleiner geworden, aber relativ haben wir natürlich auch an Gewicht verloren. Und wir sind auch außenpolitisch nicht mehr ganz so zwergenhaft, aber immer noch sehr kleinwüchsig. Hier ist das größte Defizit. In Routineangelegenheiten funktioniert gemeinsame europäische Außenpolitik inzwischen ganz gut. Aber immer dann, wenn es schwierig wird, Beispiel Syrien, Beispiel Libyen, Beispiel Irak...
…oder beim NSA-Skandal...
…immer, wenn es schwierig wird, ist keine einheitliche europäische Haltung möglich. Was es unseren Partnern in der Welt sehr einfach macht, sich auszusuchen, ob sie ein Thema mit Brüssel besprechen wollen oder mit den nationalen Hauptstädten. Dabei spielen sie dann Brüssel gegen die nationalen Hauptstädte aus und umgekehrt. Wir machen es da den anderen Mächten in der Welt viel zu leicht, mit uns in einer Art und Weise umzugehen, die unseren Interessen nicht förderlich ist. Die Konsequenz ist vollkommen klar, natürlich brauchen wir eine funktionierende, gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, bis hin zu gemeinsamen Streitkräften. Aber es muss eine Gemeinsamkeit geben, die den Namen auch verdient.
Wenn Sie die EU vor dem Hintergrund der Finanzkrise als Patienten sehen würden: Glauben Sie, der Patient EU ist auf dem Weg der Besserung?
Wenn man eine Stabilisierung des Zustandes in einer sehr krisenhaften Situation als Verbesserung bezeichnen kann, ja. Was wir im Augenblick haben, ist noch nicht eine wirkliche Erholung, aber es ist eine Stabilisierung des Zustandes.
Günter Verheugen (geboren 28.04.1944 in Bad Kreuznach), SPD, früher FDP, war von 1999 bis 2009 EU-Kommissar. Zuletzt war er Kommissar für Unternehmen und Industrie sowie Vizepräsident der EU-Kommission. Vorher war er als Kommissar für die EU-Erweiterung zuständig. Im Jahr 2010 gründete er mit seiner früheren Kabinettschefin sein eigenes Lobbyunternehmen, die European Experience Company.