"Vernunft ist wichtiger als Religion"
23. Januar 2003Vor zehn Jahren floh die Somalierin Ayaan Hirsi Ali, 32 Jahre alt, vor ihrer eigenen Familie in die Niederlande. Ihr Vater hatte sie gegen ihren Willen verheiratet. Sechs Söhne sollte sie ihrem Mann gebären, einem fundamentalistischen Moslem. Dagegen setzte sie sich mit ihrer Flucht zur Wehr. Heute kämpft sie für die Emanzipation muslimischer Frauen und damit auch gegen das multikulturelle Selbstverständnis der Niederlande.
Morddrohungen "aus den eigenen Reihen"
Im September letzten Jahres war Hirsi Ali mit Morddrohungen konfrontiert worden. In einer Diskussionssendung des niederländischen Fernsehens hatte sie den Islam für frauenfeindlich erklärt. Hirsi Ali prangerte Misshandlungen von Frauen und deren Beschneidungen an. Nach diesem Fernsehauftritt tauchte sie kurzfristig in den USA unter. Zu dieser Zeit war Hirsi Ali noch Mitglied der sozialdemokratischen Partei (PvDA). Diese unterstützte sie zwar sofort, als es um ihre Sicherheit ging, erklärte ihre öffentliche Islamschelte jedoch für parteischädigend.
Hirsi Ali wechselte zu den Liberalen (VVD), von denen sie sogleich ein Angebot bekam: ein sicherer Listenplatz für die Parlamentswahl und volle Unterstützung für das Engagement in Fragen der Emanzipation muslimischer Frauen. Doch Hirsi Alis Einsatz ist ambivalent. Der Grund: Mit Hilfe der rechtsliberalen Partei will sie auch die Begrenzung der Einwanderung durchsetzen.
"Wir haben Gott erschaffen, und nicht Gott uns"
Im niederländischen Wahlkampf nahm sie – jetzt von Leibwächtern begleitet – kein Blatt vor den Mund. Ihre offenen Worte sorgten für Zündstoff: "Ich habe den Koran studiert, aber eines Tages habe ich begonnen, selbst nachzudenken. Dabei habe ich erkannt: Es sind die Menschen, die Gott erschaffen haben, nicht umgekehrt. Dass der Koran dem Mann das Recht zugesteht, die Frau zu schlagen, das kann und darf nicht sein".
Wie vor einem Jahr noch Pim Fortuyn, bezeichnet Ayaan Hirsi Ali den Islam als rückständig und repressiv gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Sie fordert Schutz für die unterdrückten Frauen: Am Besten in "Befreiungscamps", in denen ihnen gezeigt werden soll, wie sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Und sie appelliert an den Staat, häusliche Inseln des Unrechts nicht mehr zu dulden. Ihr Credo: Schluss mit dem Wegsehen im Namen eines Multikulturalismus, wenn dabei die Werte der Demokratie unter die Räder kommen.
Integrationspflicht ist in – Multikulti out
Wer sich nicht integrieren lassen will, soll ihrer Meinung nach das Land verlassen. Ihr Argument: "Multikulturalismus soll Integration unter Beibehaltung der eigenen Identität bedeuten, aber das heißt doch gar nichts. Wenn Frauen eingeschlossen werden und Töchter nicht zur Schule gehen dürfen, ist es das etwa, was man unter Beibehaltung der eigenen Kultur versteht?". Nach Hirsi Ali kann in den Niederlanden nicht von Integration, sondern nur von Ghettobildung die Rede sein.
Das Klima in den Niederlanden, das bisher als äußerst tolerant bezeichnet werden konnte, hat sich im vergangen Jahr zweifellos verschärft. Auch in der Politik sind die Zeiten, in denen ausgeglichene Töne vorherrschten, vorbei. Die Hauptpunkte der Liste Pim Fortuyn – Begrenzung der Einwanderung, Integration, Recht und Ordnung – sind im Wahlkampf von allen Parteien aufgegriffen worden. Viele holländische Intellektuelle warnen vor der populistischen Ausschlachtung dieser Themen und einer neuen Intoleranz, zu der auch Hirsi Ali ihren Beitrag leistet. Doch sie verteidigt ihren Weg ohne Kompromisse. Dabei hätte sie mit der strengeren Zuwanderungspolitik, die sie jetzt fordert, damals selbst nicht so einfach Asyl erhalten.