Verschollen im Internet
2. Juni 2012Irgendwann ist Klaus verloren gegangen. Verschmolzen mit dem Internet. Zum ersten Mal sei er Ende der neunziger Jahre online gegangen. Er hat sich eine E-Mail-Adresse zugelegt, gechattet, gesurft. "Das übliche, was man am Anfang halt so macht." Damals sei seine Internetnutzung allerdings noch moderat und nicht täglich gewesen.
"Den Genickschuss haben mir dann diese virtuellen Rollenspiele, wie World of Warcraft oder Final Fantasy verpasst, da habe ich beim Spielen dann komplett die Zeit vergessen." Klaus taucht ab. Er vernachlässigt Freunde und Bekannte. Sogar das Essen und das Schlafen stellt er hinten an. Er verbringt die Nächte im Netz. Tages- und Nachtzeiten verschieben sich völlig. Der erste Gedanke nach dem Aufstehen gilt dem Computer.
Aus der Realität abgemeldet
Der aktuelle Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung zeigt, dass Klaus mit seinem Schicksal nicht alleine ist. Internetsucht ist zum gesellschaftlichen Problem geworden. Wie hoch die genaue Zahl der Betroffenen ist, können Experten bisher nur schätzen: 560.000 der 14- bis 64-Jährigen gelten als internetabhängig. 2,5 Millionen Menschen wird eine problematische Internetnutzung bescheinigt.
Entzugserscheinungen wie bei einem Junkie
Dabei zeigen die Betroffenen ähnliche Symptome wie auch Alkohol- oder Heroinabhängige, berichtet Michael Berner, Chefarzt der Rhein-Jura Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Die Süchtigen leiden dabei unter Entzugserscheinungen, meinen: sie könnten ohne das Internet nicht mehr sein. "Viele merken, dass sie andere soziale Aktivitäten und ihre Freizeit vernachlässigen, können aber nichts mehr dagegen machen. Sie haben ihren Konsum einfach nicht mehr unter Kontrolle", erklärt Berner.
Dabei bedeutet eine hohe Internetnutzung aber nicht zwangsläufig, dass die Person süchtig sei, erklärt Christoph Möller, Chefarzt der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Kinderkrankenhaus Hannover. "Kritisch wird es, wenn die Person Schaden nimmt, wenn sie nicht mehr in die Schule geht und soziale Kontakte vernachlässigt."
Andere Begleiterkrankungen gehen einher
Wie bei einer Drogensucht auch, liegen der Internetabhängigkeit meist psychische Begleiterkrankungen, wie eine Depression oder eine Angststörung zugrunde. Die Betroffenen würden dann im Internet nach Befriedigungen suchen, die im realen Leben nicht mehr bedient werden. Typisch sei es, dass depressive Menschen sich ins Internet zurückziehen und sich dann dort eine Abhängigkeit entwickeln würde, sagt der Psychologe Wolfgang Dau von der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen und Psychotherapie der LVR-Klinik Bonn. Oft werde auch der Abbau von Stress und schlechter Stimmung durch eine hohe Internetnutzung kompensiert.
Die meisten Süchtigen entfallen dabei auf die Altersgruppe der 14- bis 24-Jährigen, hier schätzt man die Zahl der Abhängigen auf 250.000. Also fast die Hälfte aller Betroffenen. Gleichwohl tritt das Phänomen in allen Altersschichten auf. Junge Menschen begeistern sich im Internet dabei eher für die Online-Rollenspiele, wohingegen sich die Älteren bei den herkömmlichen Internetaktivitäten verlieren würden, berichtet Wolfgang Dau.
Bei beiden Geschlechtern vorhanden
Neben Jugendlichen, bei denen sich das Suchtverhalten hauptsächlich auf Spiele konzentriert, leiden besonders Männer unter einer solchen Erkrankung. Dies ist aber kein generelles Phänomen der Internetsucht, erklärt Michael Berner. "Bis auf die Essstörungen treten alle Süchte häufiger bei Männern als bei Frauen auf." Hier scheint es eher eine genetische Veranlagung bei Männern für Krankheiten dieser Art zu geben. Wobei Wolfgang Dau darauf hinweist, dass die Frauen interessanterweise bei der Nutzung von sozialen Netzwerken vor den Männern liegen würden.
Christoph Möller, der die erste stationäre Einrichtung in Deutschland für computersüchtige Jugendliche in Hannover leitet, erzählt von dem erschreckenden Fall, wobei Mütter sogar ihre eigenen Kinder vernachlässigt haben, "weil sie nur noch im Internet unterwegs waren". Internetsucht sei also kein Männerproblem.
Neuer Umgang mit dem Medium lernen
Die Krankheit Internetsucht ist bisher noch nicht als eigenständige Krankheit medizinisch anerkannt. "Wir leisten hier Pionierarbeit", sagt deshalb auch Möller. Erst im März 2008 öffnete an der Klinik für Psychosomatische Medizin der Universität Mainz die erste bundesweite Ambulanz für Spielsucht. Mittlerweile gibt es auch in einigen anderen Städten ähnliche Einrichtungen. Alle Patienten müssten in der Therapie erst einmal wieder lernen, einen gesunden und vernünftigen Umgang mit dem Medium Internet herzustellen.
Darüber hinaus gelte es auch, den Körper wieder bewusst wahrzunehmen und sich Hobbies zu suchen. Über Praktika erfolge dann während der Therapie wieder die langsame Heranführung an das Berufsleben. Aber die Betroffenen würden sich hier auf einem schmalen Grat bewegen, sagt Michael Berner von der Rhein-Jura Klinik. "Im 21. Jahrhundert kann man eigentlich weder beruflich noch privat auf das Medium Internet verzichten."
Christoph Möller appelliert an Eltern, dass Kinderzimmer komplett bildschirmfrei sein sollten, denn Kinder bräuchten umfangreiche Sinneseindrücke für ihre Entwicklung. Allerdings dienten auch viele Erwachsene heutzutage nicht immer als ein gutes Vorbild. "Es gibt doch keine Opernvorstellung mehr, wo nicht ein Handy während der Aufführung klingelt."