Videoprojekt gibt Flüchtlingen eine Stimme
9. Dezember 2016Ein junger Mann steht an einer Bushaltestelle. Auf der Bank sitzt eine Frau und liest Zeitung. Der Mann setzt sich neben sie, die Frau zieht ihre Handtasche näher zu sich und wendet sich von dem Mann ab. In der nächsten Szene geht der Mann durch eine dunkle Unterführung, an deren Ende eine junge, blonde Frau auf einer Treppe steht. Als sie den Mann sieht, dreht sie sich um und läuft davon. In der dritten Szene ist der Mann wieder an der Bushaltestelle. Eine junge Frau mit Dreadlocks setzt sich hin und lächelt ihn an. Diesmal ist es der Mann, der aufsteht und geht.
Diese Szenen stammen aus einem von 63 Videos, in denen Geflüchtete ihre Perspektive auf ihre Herkunftsländer, ihre Flucht und ihr Leben in Deutschland zeigen. In Kooperation mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat die Stiftung gegen Rassismus den Video-Wettbewerb "Aus meiner Sicht" initiiert. Es werde sehr viel über Flüchtlinge, aber kaum mit ihnen gesprochen, sagt Projektreferentin Paula Scherer. "Wir wollten Geflüchteten die Möglichkeit geben, einmal selbst ihre Sicht der Dinge darzustellen, ihre Wünsche, Vorstellungen und Kritik zu äußern."
"Ich will nichts anderes als du"
Die Videos zeigen eine große Bandbreite von Gefühlen und Sichtweisen. Es geht um traumatische Erlebnisse wie Folter, die Flüchtlinge auch in der neuen Heimat in ihren Albträumen verfolgen. Es geht um Ausgrenzung, Vorurteile und Angst, aber auch um die Erleichterung, irgendwo angekommen zu sein. Einige Videos tragen schwere Botschaften, andere sind kritisch, wieder andere leichtfüßig, witzig und voller Hoffnung. Mal spricht der Protagonist direkt in die Kamera, mal spielen mehrere Flüchtlinge Szenen aus ihrer ersten Zeit in Deutschland nach. Mal besteht das Video aus Bildern von Bremen unterlegt mit syrischer Musik. Auch ein animiertes Video ist dabei.
Der 24-Jährige Abdullah Alaliwee hat bei dem Wettbewerb mitgemacht. Er kommt aus der syrischen Stadt Idlib und lebt seit zwei Jahren in Deutschland, in einem Dorf an der niederländischen Grenze. Dort macht er eine Ausbildung zum Versicherungskaufmann. Er spricht fast perfekt Deutsch - ohne Deutschkurs, wie er stolz betont. YouTube-Clips haben ihm geholfen, die Sprache schnell zu lernen.
Bei "Aus meiner Sicht" hat er mitgemacht, um Vorurteile abzubauen. "Deutschland ist ein Land mit vielen Religionen und Menschen aus verschiedenen Kulturen. In meinem Video möchte ich zeigen, dass wir zusammen und in Frieden leben können." Das erzählt er in seinem Film bei einem Gang über den Weihnachtsmarkt.
Stereotypen entgegentreten
"Mir ist aufgefallen, dass viele Protagonisten sich einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sehen", sagt Paula Scherer. "Viele sagen 'Ich will doch auch nur friedlich leben. Ich will doch auch nichts anderes als du.' Diese Botschaft habe ich oft gesehen."
Einige Videos beschäftigen sich mit den bürokratischen Schwierigkeiten in Deutschland, mit Anfeindungen und Stereotypen. Doch in den meisten Beiträgen sei das Deutschlandbild positiv, meint Scherer. Viele Teilnehmer seien froh, hier zu sein, hätten Freunde gefunden und sich beruflich neu orientiert. "Ich bin glücklich, dass ich in Deutschland bin", sagt auch Abdullah Alaliwee. "Wenn wir eine Chance bekommen und Hilfe, können wir viel schaffen!"
Überrascht hat die Projektverantwortlichen, wie oft Einsender in Gruppen gearbeitet haben. In vielen Fällen hätten sich Filmemacher mit Flüchtlingen zusammengetan, so Paula Scherer. Die Resonanz sei groß gewesen: "Unser Gefühl war, dass die Teilnehmer ein unheimliches Bedürfnis hatten, auch mal ihren Standpunkt darzustellen."
Den Hauptgewinnern des Wettbewerbs winken Gutscheine im Wert von bis zu 1000 Euro. Außerdem bekommen die Produzenten der besten 30 Videos finanzielle Unterstützung, um ihre Filme vor Publikum zu zeigen.
Die Siegervideos von "Aus meiner Sicht" werden am 11. Dezember 2016 in Mainz prämiert.