Theater um die Berliner Volksbühne
13. Juli 2016Chris Dercon soll im Sommer nächsten Jahres den langjährigen Volksbühnen-Chef Frank Castorf ablösen. Der Berliner Senat lässt den Vertrag mit Castorf auslaufen. Der designierte Nachfolger gilt zwar als verdienter Kulturmanager, denn der Belgier, Jahrgang 1958, war Chef des Münchener Hauses der Kunst und leitet derzeit die Londoner Tate Gallery of Modern Art - doch Dercon hat bisher noch kein Theater geleitet. Dass nun ein Museumsmann und Kurator "das wahrscheinlich legendärste deutschsprachige Theater übernimmt", habe Kopfschütteln ausgelöst und mache viele "fassungslos", sagt der Berliner Hochschullehrer und Kulturmanager Klaus Siebenhaar im Gespräch mit der Deutschen Welle. Siebenhaar arbeitete elf Jahre lang am benachbarten Deutschen Theater.
"Radikaler Neuanfang"
Dercon will, wie er bei seiner Vorstellung im Roten Rathaus im April ankündigte, langfristig eine Gleichberechtigung der Sparten und Ausdrucksformen erreichen, darunter Sprechtheater, Tanz, Performance, Film, Musik, Musiktheater, Bildende Kunst und Kulturen des Digitalen. Außerdem schwebt ihm die ganze Stadt als Bühne vor, so würde er zum Beispiel gern große Kunstprojete in Tempelhof ansiedeln. In der Volksbühne sollen der Repertoirebetrieb und eine En-suite-Spielweise nebeneinander existieren. Kritiker befürchten eine "Eventbude".
Fassungslos reagierte zunächst die Belegschaft der Volksbühne. Schauspieler, Regie- und Werkstattmitarbeiter wandten sich in einem Offenen Brief an den Berliner Senat. Ihr Vorwurf: Im Namen einer vermeintlichen Internationalisierung und Vielfalt arbeite der Senat "intensiv an der Zerstörung von Originalität und Eigensinn", mit der die Volksbühne weltweit Anerkennung finde. Viele Beschäftigte fürchten um ihren Arbeitsplatz. Dagegen verspricht Tim Renner, Berlins Staatssekretär für kulturelle Angelegenheiten, nach der Castorf-Ära einen "radikalen Neuanfang". Es werde nicht zu mehr Kündigungen kommen als bei Intendantenwechseln üblich. Der Berliner "Tagesspiegel" sieht in dem Streit eine "Schicksalsfrage für die ganze Stadt".
Tempel für die Arbeiter
"Die Kunst dem Volke" stand einst in großen Lettern über dem Portal, als die Volksbühne 1914 ihren Theaterbau am heutigen Rosa-Luxemburg-Platz eröffnete – als Kulturtempel für die Arbeiter: Bauherrin war die 1890 gegründete, der Sozialdemokratie nahestehende Volksbühnen-Bewegung. Der Verein wollte so unabhängig von privaten Theaterunternehmern werden und der kaiserlichen Zensur entgehen. Die Vorstellungen waren den Mitgliedern vorbehalten, sie hatten den Bau mit ihren "Arbeitergroschen" mitfinanziert. Künstlerisch sorgte die Volksbühne spätestens in den 1920er Jahren für Schlagzeilen. 1924 gab Erwin Piscator, einer der großen Erneuerer des Theaters, sein Debüt. Unter den Nazis verlor der Verein das Haus. Die Theaterbetriebs AG wurde liquidiert, auf dem Spielplan standen nun Klassiker wie Schillers "Räuber", Alt-Berliner Possen wie "Eine leichte Person", Operetten und "Volksstücke". 1943 wurde die Volksbühne durch Bomben beschädigt, in den letzten Kriegstagen 1945 brannte sie aus.
Prägendster Intendant zu DDR-Zeiten war nach dem Wiederaufbau der Schweizer Brecht-Schüler Benno Besson, der 1974 die Intendanz übernahm, auf modernes Volkstheater setzte und die großen Bühnenspektakel erfand, die republikweit ausstrahlten. Nach dem Fall der Mauer drang der Verein Freie Volksbühne vergeblich auf Rückgabe: Das Theater blieb städtisch. Frank Castorf übernahm 1992 die Leitung. In der 100-jährigen Geschichte ist er nun dienstältester Volksbühnen-Chef. Legendär sind Castorfs "Lange Nächte" mit Oper, Theater und Filmproduktionen. Und auch die Arbeiten anderer Regisseure wie Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief oder René Pollesch.
"Typisch deutsche Diskussion"
"Eine typisch deutsche Diskussion mit fast schon kulturrevolutionärer Dimension" nennt Klaus Siebenhaar die gegenwärtige Auseinandersetzung. Die Volksbühne habe unter Castorf "Theatergeschichte geschrieben" und sei in ihrem transdisziplinären Spielplan aus Rockkonzerten, spektakulären Inszenierungen, Tanztheater, Film- und Medienevents der Prototyp eines "völlig neuen Typus von Stadttheater" geworden, der überall nachgeahmt werde. Über Chris Dercons Zukunftskonzept ist kaum mehr bekannt als die Ankündigung, man wolle aus der Volksbühne ein "Globaltheater des 21. Jahrhunderts" machen und Brücken schlagen "von der Gegenwart in die Geschichte des Theaters".
Kultursstaatssekretär Renner wies die Proteste der Mitarbeiter als "unbegründet" zurück. Im "Tagesspiegel" sprach er im April von einer "zunehmenden Internationalisierung" Berlins: "Es liegt ein anderer Anspruch auf unserer Kultur. Die Welt schaut staunend auf Berlin und hofft und erwartet, dass unser Experiment gelingt." Renner lobte das Maxim Gorki Theater und die Komische Oper, die unter ihren Intendanten Shermin Langhoff und Barry Kosky von der "Hochkultur" Abschied genommen hätten und nun ein internationales Publikum bedienten. Genau das, befürchten Kritiker nun, steht nun auch der Volksbühne bevor. Schützenhilfe erhielt Dercon unlängst in einem Offenen Brief von namhaften Kuratoren, Museumsmachern und Kulturmanagern, darunter dem früheren documenta-Leiter Okwui Enwezor.
Der Berliner Senat opfere "ohne Not eine Institution, wie sie kein zweites Mal auf der Welt existiert - zugunsten eines bestimmt attraktiven Konzepts, das man überall auf der Welt machen kann", fasst Klaus Siebenhaar die Kritik zusammen. Es sei sicherlich überzogen, Dercon "als neoliberal zu denunzieren" nimmt Siebenhaar den Belgier in Schutz. "Aber Dercon ist auch kein Künstler". Dies sei in einem künstlergetriebenen Betrieb wie der Volksbühne unabdingbar.