1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Ganze Familien brachten sich um"

Sarah Judith Hofmann 4. Mai 2015

Den 8. Mai 1945 empfanden zahlreiche Deutsche nicht als Befreiung. Ein Gespräch mit Buchautor Florian Huber über den größten Massenselbstmord der Geschichte - und was dieser mit Hitler zu tun hatte.

https://p.dw.com/p/1F5sr
Gedenken an die Zerstörung Dresdens
Bild: picture-alliance/dpa

DW: Sie beginnen Ihr Buch "Kind, versprich mir, dass du dich erschießt" in dem kleinen Ort Demmin in Vorpommern. In den letzten Kriegstagen haben sich dort – Ihren Forschungen zufolge – zwischen 700 und 1000 Menschen das Leben genommen. Warum blicken Sie gerade nach Demmin?

In Demmin ist dieses Selbstmordphänomen besonders ausgeprägt gewesen. Das liegt auch an der geographischen Lage. Es liegt wie eine Halbinsel zwischen drei Flüssen. Nachdem die Brücken gesprengt worden waren, kam niemand mehr weg – auch die Soldaten der Roten Armee nicht, nachdem sie die Stadt am 30. April eingenommen hatten. In Demmin waren neben den Einwohnern noch tausende von Flüchtlingen aus den Ostgebieten. Die Stadt war völlig überfüllt. Alle waren eingesperrt, wie in einer Falle, auf viel zu engem Raum. Und da hat sich dann eine Gemengelage und eine Stimmung zusammengebraut, die letzten Endes vielen zum Verhängnis wurde. Aber Demmin ist kein Einzelfall geblieben.

Wovor hatten die Menschen beim Einmarsch der Sowjetischen Truppen so unglaublich große Angst?

Die Leute hatten natürlich schon jahrelang in der deutschen Propaganda gehört, was ihnen blüht, wenn der Feind mal deutschen Boden betritt. Das wurde in den gruseligsten Farben ausgemalt, die "mongolischen Horden", als die die Russen bezeichnet wurden, schneiden den Kindern die Zungen ab und stechen ihnen die Augen aus und vergewaltigen die Frauen. Die Angst war riesengroß. Besonders als die Berichte von den Flüchtlingen hinzukamen, die schon einiges erlebt hatten – auch Verbrechen und Vergewaltigungen. So schaukelte sich die Angst und dann auch die tatsächliche Erfahrung von Gewalt zu einer Verzweiflung hoch, der man nur durch den eigenen Tod zu entrinnen glaubte.

Florian Huber Autor
Bild: Carsten Schilke

Blieb der Massenselbstmord ein Phänomen der Furcht vor der Roten Armee? Wie sah es im Westen aus, wo die Briten und Amerikaner vorrückten?

Es war nicht nur die Angst vor dem Feind und vor der Sowjetarmee. Viele Menschen hatten ein Gefühl von Schuld und Verstrickung und deswegen auch Angst vor dem, was danach kommen könnte. Viele konnten sich auch gar nicht vorstellen, wie die Welt nach diesen zwölf Jahren Ausnahmezustand nun aussehen sollte. Dieses Gefühl der Untergangsstimmung war nicht nur auf den Osten beschränkt, sondern sie herrschte eigentlich im ganzen Reich. Ich habe in allen Orten, in denen ich recherchiert habe, Beispiele gefunden. Statistisch betrachtet ist die Zahl der Selbstmorde in Bayern sehr schnell hochgeschnellt, auch in Städten wie Hamburg. Im gesamten Reich brachten sich Familien um.

Welche Rolle spielte das Vorbild Hitlers, der sich am 30. April das Leben nahm?

Hitler erschießt sich am 30. April, am nächsten Tag vermeldet das Radio, "der Führer" sei im heldenhaften Kampf gegen den Feind gefallen. Der Freitod wurde nicht einmal erwähnt. Das erstaunliche ist, dass dieser "Führer", den die Deutschen ja wirklich geliebt und verehrt haben wie eine Lichtgestalt, dass sich dieser Mythos in den letzten Wochen und Monaten total aufgelöst hatte. Ich konnte in keinem der Tagebücher, die ich aus dieser Zeit gelesen habe, irgendeine Anteilnahme am Tod des "Führers" finden. Das war den Leuten, als Deutschland sich im Untergang befand, gleichgültig. Dass der "Führer" die Menschen in den Selbstmord mitgerissen hätte, stimmt also überhaupt nicht. Hitlers Selbstmord spielt bei dem Phänomen überhaupt keine Rolle.

Was waren das für Menschen, die sich umbrachten? Waren es in erster Linie überzeugte NSDAP-Mitglieder?

In Demmin können wir aufgrund der Sterbeurkunden tatsächlich feststellen, welche Berufe die Menschen hatten. Und da lässt sich überhaupt kein spezielles Merkmal feststellen. Es waren Männer, Frauen, Kinder, Angestellte, Handwerker, Hebammen, Studenten, Schüler, es ist wirklich ein Querschnitt durch die kleinstädtische Bevölkerung von damals. Und ich bin absolut der Überzeugung, dass das überall der Fall gewesen ist. Natürlich gab es Leute, die auch einen besonderen Grund hatten Angst zu haben. Es gab jede Menge Nazis unter denen, die sich umgebracht haben, die Dreck am Stecken hatten. Aber sie waren eben nicht die einzigen.

Selbstmorde Zweiter Weltkrieg Grabstein der Familie Weisbach
Selbstmord am 8. Mai 1945: Auch im sächsischen Kreischa brachte sich eine ganze Familien um, wie dieses Grabkreuz der Familie Weisbach zeigtBild: DW/F. Steiner

Gibt es einen Fall, der Sie besonders berührt hat?

Mich hat in Demmin besonders der Fall der Pelzhändlerin Marie Dabs berührt. Sie war eine ganz lebenszugewandte, robuste Person. Das kann man aus ihren Tagebüchern herauslesen. Sie hat alle Lebenskrisen gemeistert, schon den Ersten Weltkrieg erlebt, dann die Hungerjahre in der Weimarer Zeit, Weltwirtschaftskrise. Als ihr Mann bei Kriegsausbruch eingezogen wird, führt sie das Geschäft weiter, kümmert sich um die Kinder. Diese Frau hat mit Sicherheit nie daran gedacht, sich das Leben zu nehmen. Aber als sie dann in diesen letzten Kriegstagen von Demmin in den Straßen herumirrt und in den Wäldern Menschen an den Bäumen hängen sieht, da bekommt auch Marie Dabs Angst und sie beginnt, nach Gift zu suchen, um sich und ihre Kinder umzubringen. Selbst diese lebenbejahende Frau hat am Sinn des Lebens gezweifelt. Das hat mich schon sehr berührt. Sie hat nur deswegen überlebt, weil sie nicht die nötigen Mittel gefunden hat, sich umzubringen.

Aber wir kennen doch auch etliche Bilder vom 8. Mai 1945, auf denen jubelnde Menschen zu sehen sind…

Ganz bestimmt haben viele auch aufgeatmet. Sicherlich all die verfolgten Minderheiten: Juden, die noch im Reichsgebiet lebten, aber auch politisch Andersdenkende. Heute muss man natürlich sagen, es war für alle eine Befreiung. Damals haben es zwar einige so empfunden. Andere wiederum haben darin das Gegenteil gesehen, so dass sie glaubten, sich umbringen zu müssen.

Buchcover Kind, versprich mir, dass du dich erschießt
Bild: Berlin Verlag

Warum ist dieser größte Massenselbstmord der Geschichte Deutschlands eigentlich bis heute so unbekannt? Handelt es sich noch immer um ein Tabuthema?

Man kann es zum Teil damit erklären, dass es in der DDR verboten war, über solche Themen wie Demmin zu sprechen, da man damit schlechte Dinge über die Rote Armee angedeutet hätte. Aber die Wiedervereinigung ist ja nun auch schon ein Weilchen her. Ich kann also nur zu dem Schluss kommen, dass die Selbstmorde nicht dazu passten, wie wir in den vergangen 20 bis 30 Jahren über unsere Vergangenheit nachgedacht haben. Vieles wurde in das starre Schema der Täter und Opfer, der Helden und Henker gepresst. Diese Selbstmörder belegen das Gegenteil. Sie waren nicht nur Täter, denn es waren alle möglichen Leute. Es waren aber auch keine Opfer, die man mit Menschen, die im Konzentrationslager waren, vergleichen könnte. Es waren Menschen, die sich selbst umgebracht haben unter extremen Umständen.

Das Interview führte Sarah Judith Hofmann.

Florian Huber: "Kind, versprich mir, dass du dich erschießt". Der Untergang der kleinen Leute 1945, Berlin Verlag, 22,99€.