Jahr der Wende?
28. Dezember 2012Noch Anfang Dezember sah es so aus, als würde die EU zerstrittener als je zuvor ins neue Jahr gehen. Doch beim jüngsten EU-Gipfel war dann doch ein neuer gemeinsamer Schwung sichtbar. So labil wie zu Anfang des Jahres steht vor allem die Währungsunion heute nicht mehr da, auch wenn noch viele Probleme gelöst werden müssen. Die Schuldenkrise war das allesbeherrschende Thema auch des Jahres 2012 und hat anderes in den Hintergrund gedrängt: Den Bürgerkrieg in Syrien, die Zuspitzung des Nahost-Konflikts, die Umwälzungen in Ägypten hat die EU nur am Rande wahrgenommen. Und selbst für eine so wichtige Frage wie die europäische Integration von Serbien und anderen Nachfolgestaaten Jugoslawiens hatte die EU kaum Aufmerksamkeit und Kraft übrig. Kroatien wird zwar bald Mitglied werden. Aber Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte beim jüngsten Gipfel ausdrücklich, für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Serbien sei "die Zeit nicht reif", denn "bei Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit schauen wir genauer hin". Alles muss sich jetzt der Aufgabe unterordnen, die Währungsunion zu festigen.
Untergangsstimmung im Frühjahr
Einiges spricht dafür, dass die Krise in diesem Jahr ihren Höhepunkt überschritten hat. Wenn man genauer festlegen will, wann der Höhepunkt war, dann kommt man auf das Frühjahr. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso warnte damals, niemand solle glauben, "dass das europäische Projekt und seine Errungenschaften unumkehrbar wären." Und Parlamentspräsident Martin Schulz sah in der hohen Jugendarbeitslosigkeit "eine Schande, die die Axt an die Demokratie in ganz Europa legt". Es herrschte Untergangsstimmung, manche sagten das baldige Ende des Euro voraus.
Griechischer Austritt angedacht
Das Land, auf das sich die Warnungen, Klagen und Hoffnungen nach wie vor am meisten beziehen, ist Griechenland. Dort läuft bereits das zweite internationale Hilfsprogramm, private Gläubiger haben auf einen Teil ihrer Forderungen verzichtet - doch die Kreditgeber mussten schließlich bis zum Herbst warten, um ein in ihren Augen glaubhaftes Spar- und Reformpaket zu sehen. EU-Währungskommissar Olli Rehn stellte einmal lapidar fest: "Das Land hat ein Jahrzehnt lang systematisch über seine Verhältnisse gelebt."
Nicht nur aus Deutschland kamen im Laufe des Frühjahrs einzelne Forderungen, Athen solle die Währungsunion verlassen. Die österreichische Finanzministerin Maria Fekter riet Griechenland im Mai sogar, es solle aus der EU insgesamt austreten und sich dann erneut um einen Beitritt bemühen, "und dann würden wir genau hinschauen, ob Griechenland überhaupt beitrittsfähig wäre" - eine Anspielung auf gefälschte Zahlen, mit denen sich das Land den Zutritt zur Währungsunion erschlichen hatte.
Beruhigung durch die EZB
Doch im Sommer änderte sich der Kurs der Eurorettung radikal. Mario Draghi, Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), kündigte plötzlich an, notfalls unbegrenzt Anleihen angeschlagener Euro-Staaten zu kaufen, um deren Zinsbelastung zu lindern. Für den deutschen Zentralbankchef Jens Weidmann ist das bis heute der große Sündenfall, andere sehen darin jedoch die Rettung, die die Politik bis dahin nicht bringen wollte.
Die Spaltung zeigte sich schon beim EU-Juni-Gipfel. Der neue französische Staatspräsident François Hollande hatte zusammen mit dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti erreicht, dass der bis dahin akzeptierte europäische Sparkurs abgeschwächt wird. Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde nach dem Gipfel vielfach als Verliererin dargestellt. Die Atmosphäre in Europa war eisig. Rebecca Harms, Co-Vorsitzende der Grünenfraktion im Europaparlament, kam zu dem Schluss: "Solange darüber diskutiert wird, ob Frau Merkel umgefallen ist, ob Hollande oder Monti gewonnen haben, ob der Süden gegen den Norden marschiert oder umgekehrt, glaube ich nicht, dass wir auf einem guten Weg sind aus der europäischen Krise heraus."
Ein Gefühl der Schicksalsgemeinschaft
Es war dann auch nicht der Friedensnobelpreis für die EU, der die Atmosphäre verbesserte. Im Gegenteil, im November heizte sich die Stimmung noch einmal richtig auf, weil man sich weder auf den EU-Haushalt, noch auf die jüngste Auszahlung der Griechenland-Hilfe, noch auf den künftigen Kurs der Euro-Rettung einigen konnte. Doch es hat sich in diesen letzten Wochen des Jahres die Erkenntnis durchgesetzt, dass alle in einem Boot sitzen. Weitgehend Konsens ist am Ende des Jahres, und das ist der große Unterschied zum Jahresbeginn: Die Eurozone soll auf keinen Fall zerbrechen, kein Land soll herausfallen, auch um den Preis langfristiger Transfers von den soliden zu den weniger soliden Ländern.
Doch dafür haben die Hilfeempfänger die Pflicht zur Reform. Ohne diese gemeinsame Kraftanstrengung ist nicht nur der Euro in Gefahr, meinte Bundeskanzlerin Merkel im Herbst einmal in einer Grundsatzrede in Brüssel, ohne sie würde Europa von anderen Weltregionen abgehängt: "Wenn wir einfach da die Augen verschließen, dann werden wir gemeinsam den Wohlstand für die Zukunft nicht sichern können." Nicht jedem gefallen diese gegenseitigen Abhängigkeiten. Es gibt sogar heftige nationale Gegenbewegungen. Doch das Gefühl der europäischen Schicksalsgemeinschaft hat sich im Laufe des Jahres 2012 deutlich verstärkt.