Vietnam: Neue Führung setzt auf Balanceakt bei Außenpolitik
2. August 2024Nach dem Tod des langjährigen KP-Chefs und Staatspräsident Nguyen Phu Trong will Vietnam offenbar die bisherige Außenpolitik fortsetzen. Hanoi wolle auf ein Gleichgewicht zwischen allen Großnationen setzen, sagen Analysten.
Doch mangelnde Erfahrungen in der Diplomatie und dauernde Menschenrechtsverletzungen im wirtschaftlich boomenden südostasiatischen Land könnten in Europa eine überfällige Debatte über die Beziehungen auslösen.
Sowohl Brüssel als auch Hanoi versuchen, Kontinuität zu demonstrieren. Der scheidende EU-Außenbeauftragte Josep Borrell reiste Ende Juli nach Hanoi, um am Staatsbegräbnis von Nguyen Phu Trong teilzunehmen.
Dieser Besuch, der diese Woche mit Gesprächen in Vietnam fortgesetzt wurde, zeige die "starken Beziehungen" zwischen Brüssel und Vietnam, sagte ein EU-Sprecher gegenüber DW. Diese Bindung würde durch weitere wichtige Abkommen untermauert.
"Die EU wird sich bemühen, diese Partnerschaften weiter auszubauen." Viele europäische Konzerne haben im Zuge der Diversifizierungsstrategie ihre Produktion von China nach Vietnam verlagert.
Gute Beziehungen zu allen
Die Außenpolitik von Hanoi ist vom Ausbalancieren der Beziehungen zu allen internationalen Stakeholdern geprägt. Trotz der langjährigen und angespannten Streitigkeiten mit Peking über das Südchinesische Meer unterhalten Vietnam und China, beide kommunistisch regierter Einparteienstaat, gute Beziehungen.
Zugleich hat Vietnam seine Beziehungen zum Westen deutlich verbessert. Nach Berichten der Nachrichtenagentur Reuters diese Woche verhandeln derzeit Washington und Hanoi über einen Rüstungsdeal.
Vietnam wolle das letzte Modell des US-Militärtransportflugzeugs C-130 kaufen, das als "Hercules" bekannt ist. Beide Länder haben die Verhandlungen weder bestätigt noch dementiert.
"Die neue Partei- und Staatsführung wird ihre außenpolitische Priorität weiterhin darauf setzen, das Gleichgewicht zwischen den Großmächten aufrechtzuerhalten und die Beziehungen zu wichtigen globalen Akteuren, einschließlich der EU, zu fördern", sagt Le Hong Hiep, Vietnamforscher am Südostasieninstitut ISEAS in Singapur, im DW-Interview.
Derzeit sei die Kommunistische Partei Vietnams (KPV) zu sehr mit sich selbst beschäftigt, sagt Nguyen Khac Giang vom ISEAS. Die politischen Eliten in Hanoi würden sich in den kommenden Monaten auf die Innenpolitik konzentrieren, sodass es wahrscheinlich keine kurzfristigen Auswirkungen auf die Außenpolitik geben werde.
Der neu gewählte Staatspräsident To Lam sitze noch nicht ganz fest im Sattel der Macht. Er sei nur der kommissarische Generalsekretär der KPV. Erst 2026 soll er auf dem Parteitag formal gewählt werden, der alle fünf Jahre stattfindet.
Doch die Konkurrenz ist stark. Premierminister Pham Minh Chinh, ebenfalls Politbüro-Mitglied, gilt als aussichtsreicher Herausforderer.
To Lam als Drahtzieher für Entführung in Deutschland?
Der neue Präsident To Lam war von 2011 bis zu seiner Wahl im Mai 2024 Minister für öffentliche Sicherheit. Er wurde für die Entführung eines vietnamesischen Geschäftsmannes in Berlin verantwortlich gemacht.
2017 wurde Trinh Xuan Thanh, ehemals KPV-Kader und Chef eines staatlichen Energiekonzerns vom vietnamesischen Geheimdienst auf der offenen Straße in der Berliner Stadtmitte entführt. Trinh Xuan Thanh hatte in Deutschland politisches Asyl beantragt, da ihm nach eigenen Angaben infolge der Korruptionsvorwürfe in Vietnam die Todesstrafe drohen würde.
Das deutsche Asylrecht sieht vor, dass niemand in einen Staat abgeschoben werden darf, in dem das ernsthafte Risiko der Todesstrafe besteht.
Thanh wurde mit einem Transporter gewaltsam in die Slowakei gebracht, wo er in einem slowakischen Regierungsflugzeug für eine politische Delegation aus Vietnam unter der Leitung von To Lam nach Hanoi zurückgebracht wurde.
Deutsche und slowakische Gerichte haben mehrere Personen wegen der Entführung zu Haftstrafen verurteilt und eine diplomatische Krise mit Hanoi ausgelöst. 2018 wurden der vietnamesische Botschafter und ein weiteres Botschaftsmitglied in Deutschland zur Persona non grata erklärt.
"Einige Länder, insbesondere Deutschland, fühlen sich im Umgang mit To Lam vielleicht etwas unwohl. Aber ich glaube, das ist inzwischen kein großes Thema ", sagt Hiep der DW.
Im April, als es absehbar war, dass To Lam Vietnams Präsident werden sollte, ließ die slowakische Regierung die Anklage gegen ihn wegen seiner Rolle bei der Entführung von Thanh fallen. Er genießt nun auch diplomatische Immunität.
Dennoch glauben Experten, dass To Lam nicht über die außenpolitische Kompetenz von seinem Vorgänger Trong verfüge. Ein Großteil der Führungsriege der Kommunistischen Partei hat in den Sicherheitsapparaten Karriere gemacht und sei in dieser Hinsicht ebenfalls nicht sehr kompetent.
To Lam hat als Minister für öffentliche Sicherheit wenig internationale Erfahrungen. Im Außenministerium hat er auch kaum Freunde. 2023 ließ To Lam im Rahmen einer Antikorruptionskampagne das Außenministerium gründlich untersuchen.
Auch Fragen wie Menschenrechte, Kampf gegen Klimawandel und "all die Dinge, die europäischen Politikern wichtig sind", interessierten ihn nicht, sagt Bill Hayton, Associate Fellow beim Asien-Pazifik-Programm vom Chatham House, gegenüber DW. "Was To Lam und seinen Anhängern im vietnamesischen Sicherheitsapparat wichtig ist, ist die Aufrechterhaltung des Machtmonopols der Kommunistischen Partei."
"Schlecht für Menschenrechte"
"To Lams Aufstieg an die Macht ist keine gute Nachricht für die Menschenrechte", sagt Claudio Francavilla, Vizedirektor für EU-Angelegenheiten der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.
"Die Unterdrückung durch die vietnamesische Regierung, die völlige Intoleranz gegenüber Kritik und die Feindseligkeit gegenüber grundlegenden politischen Bürgerrechten werden nur noch zunehmen", sagt Francavilla im DW-Interview.
Die europäische Kritik an der Menschenrechtssituation in Vietnam "wird wahrscheinlich zunehmen, wenn das Regime noch autoritärer wird", sagt Alfred Gerstl, Präsident des Zentraleuropäischen Instituts für Asien-Studien in Bratislava.
Mehr kritische Stimmen aus Brüssel werde wiederum "die vietnamesischen Machthaber mit Verbindung zum Sicherheitsapparat dazu veranlassen, Kritik mit mehr Nachdruck zurückzuweisen." Im Moment, so Gerstl, "ist die EU mit ihrer Kritik an Menschenrechtsverletzungen in Vietnam eher zurückhaltend, vor allem im Vergleich zu China".
Allerdings wächst der Druck auf die EU, die vietnamesische Führung für ihr Verhalten zur Rede zu stellen, vor allem seit die Behörden dort zunehmend Umweltaktivisten ins Visier nehmen, die an von der EU unterstützten Projekten beteiligt sind, wie die DW im Juli berichtete.
"Die EU sollte aufhören, der Kommunistischen Partei Vietnams einen 'Persilschein' für Menschenrechtsverletzungen zu geben", sagte Francavilla von Human Rights Watch. "Gezielte Sanktionen und Handelsdruck sind längst überfällig."
Aus dem Englischen adaptiert von Dang Yuan