Vietnam will durchstarten
20. Oktober 2015In diesem Jahr war neben Bundestagspräsident Norbert Lammert bereits eine Reihe von deutschen Politikern in Vietnam. Ende 2015 wird der vietnamesische Präsident Truong Tan Sang Deutschland besuchen. Die gegenseitigen Besuche feiern das 40-jährige Bestehen diplomatischer Beziehungen. Diese seien, so der vietnamesische Botschafter Nguyen Huu Trang, der Deutschland aus seiner Zeit am Frankfurter Konsulat gut kennt und heute als Gesandter Handelsrat in Deutschland tätig ist, so gut wie nie zuvor.
Aufschwung und Sackgasse
Der deutsche Außenminister kommt in ein Land, das in den späten 80er Jahren eine rasante wirtschaftliche Entwicklung genommen hat. Seit der wirtschaftlichen Öffnung unter dem Schlagwort "Doi Moi" (Erneuerung) betrug das jährliche Wirtschaftswachstum zwischen sieben und acht Prozent. Erst 2014 lag es mit 5,98 Prozent unter diesem Durchschnitt. 2009 erzielte das Land ein durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen von 1000 US-Dollar pro Einwohner und wurde damit nach Definition der Weltbank ein Land mit mittlerem Einkommen. Zwar liegt Vietnam im unteren Bereich der "Middle Income Countries" - doch ein Entwicklungsland ist es damit nicht mehr.
Spätestens mit Überschreiten dieser Schwelle wurde deutlich, dass mittelfristig weitere Reformen der vietnamesischen Wirtschaft notwendig sind, um das hohe Wirtschaftswachstum beizubehalten. Aufgrund steigender Löhne würde Vietnam nämlich gegenüber anderen Entwicklungsländern wie beispielsweise Myanmar oder Kambodscha nicht konkurrenzfähig bleiben. Zugleich hat das Land noch nicht genug Zeit gehabt, um eine moderne Industrie oder einen Mittelstand hervorzubringen, die mit den Industrienationen mithalten kann. Das Land droht demnach in eine wirtschaftliche Sackgasse zu geraten.
Freihandel als Lösungsansatz
Die Kommunistische Partei Vietnams, die einen großen Teil ihrer Legitimität aus der wirtschaftlichen Entwicklung und einem stetig steigenden Lebensstandard ableitet, versucht seit längerem gegenzusteuern.
Eine wichtige Säule sind dabei Freihandelsabkommen. Vietnam hat im August 2015 ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union (VN-EU FTA) abgeschlossen, das voraussichtlich 2017 oder 2018 Inkrafttreten wird. Es ist das anspruchsvollste Abkommen, dass die EU jemals mit einem Entwicklungs- oder Schwellenland abgeschlossen hat, wie Erwin Schweisshelm von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Hanoi schreibt. 99 Prozent aller Zölle zwischen der EU und Vietnam sollen in den nächsten zehn Jahren wegfallen.
Vietnam ist zugleich Mitglied der Transpazifischen Partnerschaft (TPP), auf die sich zwölf pazifische Nationen, unter anderem die USA und Japan, aber nicht China, im Oktober 2015 verständigt haben. Nicht zuletzt soll bis Ende 2015 die ASEAN Economic Community (AEC) starten. Das Abkommen umfasst die zehn Staaten des Verbandes der Südostasiatischen Nationen (ASEAN).
In Vietnam überlappen sich demnach drei Freihandelszonen. Sie bauen wirtschaftliche Brücken in die Region (AEC), über den Pazifik (TPP) und bis nach Europa (VN-EU FTA). Vietnam könnte damit zu einem internationalen Knotenpunkt für den Welthandel werden. Botschafter Nguyen ist überzeugt, dass die Freihandelsabkommen die Investitionsvoraussetzungen in seinem Land weiter verbessern werden.
Ob sich die Hoffnungen der vietnamesischen Regierung erfüllen, mit dem Freihandel der wirtschaftlichen Sackgasse zu entgehen, sei dabei allerdings keineswegs ausgemacht, wie Schweisshelm von der FES betont. Die Freihandelsabkommen könnten das Land auch in der oben beschriebenen Sackgasse einmauern. "Die Risiken durch fehlende Konkurrenzfähigkeit kleiner und mittlerer vietnamesischer Unternehmen, aber auch der einheimischen Landwirtschaft wurden in der Öffentlichkeit nicht thematisiert." Die Entstehung einer modernen Industrie oder eines Mittelstandes könnte durch die Konkurrenz aus Übersee im Keim erstickt werden.
Deutsche Unternehmen strömen nach Vietnam
Für deutsche Unternehmen seien die Freihandelsabkommen allerdings ein absoluter Standortvorteil, sagt Björn Koslowski, stellvertretender Geschäftsführer der Auslandshandelskammer Vietnam. Überhaupt unternehme die vietnamesische Regierung sehr viel, um die Unternehmen vor Ort glücklich zu machen. "Das Investitionsumfeld in Vietnam gehört zurzeit wahrscheinlich zu den besten in der ASEAN." Und: " Vietnam ist an einem Punkt angelangt, wo sich Investitionen beziehungsweise eine Marktaktivität für eine breite Schicht von Unternehmen rechnen. Da kann Deutschland profitieren. Das ist eine Infrastruktur, mit der auch ein Mittelständler arbeiten kann."
Und deutsche Unternehmer nutzen die Gelegenheit. Koslowski sagt: "Das Interesse, nach Vietnam zu gehen, ist zurzeit gewaltig." Insbesondere erweiterten viele deutsche Firmen aus China ihre Produktion in Vietnam, um den steigenden Lohnkosten in der Volksrepublik zu entgehen. Die Lohnkosten liegen in Vietnam rund zwei Drittel unter denen in China, so die aktuelle Studie der FES.
Bestehende Hindernisse
Nachbesserungsbedarf sieht Koslowski bei der Ausbildung von vietnamesischen Fach- und Führungskräften, bei der Verstärkung der Unternehmensstruktur lokaler Zulieferer und bei der Korruptionsbekämpfung. Eine Studie zeigt, dass Korruption ein Problem bleibt. Die Häufigkeit und Höhe der Bestechungen nimmt zu, und zwar trotz einer Überarbeitung der Anti-Korruptions-Gesetze durch die Nationalversammlung und eines Regierungserlasses zur verbesserten Umsetzung der Gesetze.
Erwartungen der Gastgeber
Die nicht immer erfolgreichen Bemühungen zeigen, wie sehr Vietnam daran gelegen ist, deutsche Unternehmen anzuziehen. Botschafter Nguyen sagt: "Die deutschen Unternehmen sind aktiv in Vietnam und haben wesentlich zur wirtschaftlich und gesellschaftlichen Entwicklung unseres Landes beigetragen."
Vom bevorstehenden Besuch des deutschen Außenministers erhofft man sich aber nicht nur für die Wirtschaft neue Impulse. "Politisch ist das sogenannte strategische Vertrauen geschaffen. Wir hoffen, dass dieses Vertrauen auf allen Ebenen zur Geltung kommt, damit die weitere Zusammenarbeit dem großen Potential unserer beiden Länder entspricht." Dass dabei noch Unterschiede etwa hinsichtlich Meinungsfreiheit und politischer Kultur bestünden, sei aus Sicht des Botschafters normal und selbstverständlich. Das dürfe aber kein Hinderungsgrund sein, miteinander zu reden. "Ich bin in dieser Hinsicht persönlich sehr optimistisch."