Viktor Orbán, Angela Merkel und der Dammbruch
14. Februar 2020Wie hält´s du´s mit den Rechten? In den vergangenen Jahren ist das in Europa zur politischen Gretchenfrage geworden. Aus triftigem Grund: In fast allen osteuropäischen EU-Staaten sind sogenannte Rechtspopulisten oder Rechtsextremisten an Regierungen beteiligt oder, wie in Ungarn und Polen, sogar die dominierende politische Kraft. In Österreich und Italien waren sie Teil von Regierungskoalitionen, in vielen westeuropäischen EU-Ländern treiben sie die politische Mitte vor sich her.
In Deutschland hat die Frage, ob sich Demokraten auf eine Zusammenarbeit mit Rechtsextremisten einlassen können und sollten, sei sie auch noch so punktuell, in den zurückliegenden Tagen zum schwersten politischen Erdbeben der vergangenen Jahre geführt. Dammbruch, Tabubruch und Einsturz der Brandmauer lauten dabei die Schlagworte. Auslöser war die taktische Unterstützung der in weiten Teilen rechtsextremen thüringischen AfD bei der Wahl eines neuen Ministerpräsidenten in dem ostdeutschen Bundesland - ein Präzedenzfall unter noch immer nicht restlos geklärten Umständen.
Bislang herrschte in Deutschland ein fester Konsens darüber, dass es keinerlei Zusammenarbeit mit der "Alternative für Deutschland" geben darf. Der Erfurter Präzedenzfall stürzte deshalb vor allem die Christdemokraten in eine tiefe Krise - die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer kündigte ihren Rücktritt als Parteichefin und ihren Rückzug von der Kanzlerkandidatur an.
Jenseits des demokratischen Konsenses?
Mitten in das politische Erdbeben fiel am Montag dieser Woche ein Kurzbesuch des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán in Berlin bei Kanzlerin Angela Merkel. Das Timing des Besuchs war so zufällig wie denkwürdig: Während Annegret Kramp-Karrenbauer ihren Rückzug ankündigte, weil sie in ihrer Partei einen mit Rechtsextremen kungelnden Landesverband nicht im Griff hatte, empfing die Kanzlerin einen Mann, der noch rechts von der AfD steht. Einen Mann, gegen den in Deutschland mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen des Verdachtes auf Volksverhetzung ermittelt und der wohl vom Verfassungsschutz überwacht werden würde.
Das klingt drastisch und weit hergeholt. Immerhin bekennt sich Viktor Orbán ausdrücklich zur Demokratie und verortet sich selbst immer wieder im konservativ-christdemokratischen Spektrum. Einen offenen Verfassungsbruch hat Orbán bisher nicht begangen, bei der Umgestaltung Ungarns achtet er auf formale Legalität. Doch je eingehender man Orbán in seinem Alltag beobachtet, desto mehr ergibt sich in der Summe das Bild eines Politikers, der sich bewusst immer wieder und immer öfter außerhalb des demokratischen Konsenses stellt.
Er vertritt seit langem völkisch-ethnizistische Positionen, etwa wenn er die Volksgemeinschaft aller Ungarn betont, in der "Blut und Heimat" (so Orbán 2012 in einer Rede), das Christentum, die Familie und die "ungarische Freiheit" - was immer letzteres sein mag - die verbindenden Werte sind. Er schürt Fremdenhass, wenn er immer wieder das Feindbild des gefährlichen jungen männlichen islamischen Migranten und der "organisierten Migrantenflut" heraufbeschwört, welche die christliche europäische Kultur zerstöre. Orbán übernimmt Narrative des Rechtsextremismus - er spricht von "Welt-Hintergrundmacht" und "Bevölkerungsaustausch" in Europa. Wenn er die Auswüchse des modernen Finanzkapitalismus kritisiert oder Kampagnen gegen den US-Milliardär George Soros betreibt, dann finden sich darin immer wieder antisemitische Stereotype. Und immer wieder appelliert Orbán auch an antiziganistische Ressentiments, zum Beispiel, wenn er auf Roma-Veranstaltungen sagt, in Ungarn müssten alle arbeiten, von Sozialhilfe und Kriminalität könne man nicht leben.
Orbán hat den Reichsverweser Miklós Horthy der ungarischen Zwischenkriegszeit, der mitverantwortlich für die Deportation und Vernichtung hunderttausender ungarischer Juden war, einen "Ausnahmestaatsmann" genannt. Orbán trat mehrfach für die Wiedereinführung der Todesstrafe ein und rechtfertigte 2017 auch schon einmal einen krassen Fall von Selbstjustiz im ungarischen Dorf Öcsény: Damals wollte ein örtlicher Unternehmer einer anerkannten Flüchtlingsfamilie einige Urlaubstage im Dorf schenken, woraufhin die Reifen seiner Autos zerstochen wurden - Orbán fand daran "nichts Beanstandeswertes".
"Gesundes Volksempfinden" - Orbans Verständnis von Rechtsstaatlichkeit
Seit Neuestem spricht sich der ungarische Premier explizit auch gegen unumschränkt geltende Rechtsstaatlichkeit aus - indem er fordert, rechtskräftige Gerichtsentscheidungen nicht zu vollstrecken, wenn sie dem gesunden Volksempfinden widersprechen. In diesem Fall geht es um Entschädigungen für Häftlinge wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen und um Entschädigungen für Roma-Kinder wegen Schulsegregation. Zu diesem Thema wird die ungarische Regierung in einigen Wochen eine sogenannte "Nationale Befragung" abhalten, die üblicherweise mit einer großen Propagandakampagne der Regierung einhergeht.
Um die Einstellungen Orbáns dürfte Angela Merkel in großen Linien wissen. Die Kanzlerin und der ungarische Premier haben ein äußerst schwieriges und distanziertes Verhältnis. Dennoch sind ihre beiden Parteien - jedenfalls vorläufig noch - vereint in der Europäischen Volkspartei (EVP). Fidesz wurde nicht aus der EVP ausgeschlossen, sondern bleibt einstweilen suspendiertes Mitglied. Merkel ist weiterhin mit Orbán im Gespräch, auch aus der Erwägung heraus, den ungarischen Premier nicht gezielt in ein anderes Parteienbündnis zu treiben.
Eines muss der Kanzlerin jedoch klar sein: Viktor Orbán wird, bei allem gelegentlichen taktischen Einlenken, nicht aufhören zu zündeln, Hass zu entfachen und die gesellschaftliche Atmosphäre in Ungarn und in der Region zu vergiften. Wenn er, wie jüngst, eines der heiligsten Rechtsstaatsprinzipien in Frage stellt, nämlich den Bestand rechtskräftiger Gerichtsurteile, dann bedeutet das die grundsätzliche Bereitschaft, letztlich alle demokratischen Werte in Frage zu stellen. Dann geht es um Verfassungsbruch und dann ist der staatlichen Willkür Tür und Tor geöffnet. Daraus folgt, dass es mit diesem Mann und seiner Partei keinen gemeinsamen politischen Weg in der EVP und auch sonst nicht geben darf. Alles andere wäre der vielbeschworene Dammbruch.
Keno Verseck, geboren 1967 in Rostock, lebt als freier Journalist in Berlin und beobachtet die Entwicklung in Mittel- und Südosteuropa seit dreißig Jahren. In den 1990er Jahren lebte er in Ungarn und Rumänien.