Klassik goes Second Life
16. Mai 2007Gleich hinter dem Strand liegt das kleine Amphitheater, umrahmt von einer Hand voll Palmen und zwei großen Leinwänden. Ich schwebe 20 Meter über dem Szenario - um genau zu sein, schwebe ich nicht höchstselbst über der Insel Pagäa. Denn die ist genauso virtuell wie mein grafischer Stellvertreter Mister Palen.
Es muss gleich losgehen. Die 30 mehr oder weniger menschlich dreinblickenden Wesen vor, hinter und neben mir haben – genau wie ich – mit Hilfe der rechten Maustaste unbeschadet auf den weißen Steinbänken Platz genommen. Sie johlen - das ist ganz einfach. Denn auf dem realen Computerbildschirm gibt es bei der Nutzung der virtuellen Computerwelt Second Life ein kleines Menü mit 31 Gesten -vom Gähnen über Lachen bis zu Klatschen oder Rufen.
Live-Stream anstellen
"Da isser" - Tiki Korobase, ein mächtiger Mann mit nacktem Oberkörper, einem Bikinioberteil und stilechter Mozartperücke hat Lang Lang gesehen. Der wird just in diesem Moment in einem gelben Hubschrauber eingeflogen, landet unmittelbar neben dem Amphitheater und kommt ganz in schwarz, mit verwuschelten Haaren und jugendlich federndem Schritt daher.
"Ich hör nix", schreibt Vallis Blackthorne. Auch Chris 1984 Mc Millan hört nichts. Und Mister Palen, also mir, geht es ähnlich. Mozarts Klaviersonate in C-Dur steht auf dem Programm und eigentlich greift Lang Lang, der inzwischen am schwarz glänzenden Flügel Platz genommen hat, auch emsig in die Tasten. "Ihr müsst halt den Live-Stream anstellen", erklärt uns Zephod Coage.
Normal ist nichts
Über dem offenen Meer versinkt nun langsam die glühende Sonne, taucht alles in ein weiches warmes Licht. Eine perfekte Inszenierung - nur normal ist hier nichts. Der echte Lang Lang tourt gerade in den USA. Sein virtuelles Ich, das sich am Flügel abmüht, wurde vorab in Berlin programmiert. Denn das ganze Konzert ist eine Marketing-Idee der deutschen Abteilung von Universal Music.
Das stört aber weder Uggla noch Shan noch sonst wen bei diesem komischen Konzert, wo Wesen immer mal wieder abrupt in die Lüfte steigen, ihre Körper verdrehen oder komische Laute von sich geben. Meterlange Haare in allen Farben oder kaum zusammenpassende Gliedmaßen sind ganz normal. Nur die Dame, die auf einem Phantasiepferd angaloppiert kam, wurde wieder weggeschickt. Sie versperrte die Sicht.
Nur "Away"
Martina Luise Rossini sieht verhältnismäßig normal aus. Sie hat sich schick gemacht, trägt ein dunkelrotes Abendkleid. Sie sitzt brav zusammengesunken da und lauscht der Rhapsodie Nummer zwei in Cis-Moll von Franz Liszt. Nur das stimmt so gar nicht, denn über ihrem Kopf steht "Away". Die echte Martina Luise Rossini - oder wie auch immer sie heißen mag - ist gar nicht da. Sie ist gerade offline, spült vielleicht gerade das Geschirr und verpasst so alles.
Nach der Zugabe ist Schluss. Lang Lang springt vom Klavier auf und ist auf einmal weg. Im Amphitheater bricht milde Anarchie aus. Eine grauhaarige Hippie-Dame mit lila Schlapphut landet respektlos auf dem Flügel, hockt sich darauf und schaut dabei zu, wie ein dicker Surfer in Shorts aufgeregt im Kreis um die Bühne rennt.
Schnell weg hier. Mister Palen und ich gehen an den Strand. Es ist jetzt Nacht. Sternschnuppen zerteilen den Himmel, der Sand strahlt weiß im Mondlicht. Niemand ist hier. Auf dem Grund des Meeres steht ein Wohnwagen. Da geh ich jetzt mal hin, denn außer Fliegen kann man hier auch unter Wasser atmen.
Marcus Bösch, alias Mister Palen, zurzeit Second Life