"Gedenkstätte" im Netz
5. Oktober 2010Was ist eigentlich Gedenken? Es hat mit Erinnerung, auch mit Nachdenken und sicherlich mit Respekt zu tun. Gedenkstätten sind ein Statement gegen das Vergessen. Michaela Melián nahm die Herausforderung an, ohne festen Ort ein Kunstwerk zu schaffen, das dem Gedenken an die Opfer des NS-Terrors gewidmet ist und schickt 300 Tonspuren mit den Stimmen von Betroffenen ins Netz. Das Projekt "Memory Loops" verknüpft Erinnerungen mit Orten und Straßennamen.
Zeitzeugen erzählen – mit jungen Stimmen
Die Aussagen der Zeitzeugen, die Michaela Melián in Archiven der Gedenkstätte Dachau, des Bayerischen Rundfunks und in selbst geführten Interviews fand, hat sie von Schauspielern, Kindern und Jugendlichen nachsprechen lassen. So hört man nicht die Originalstimmen von verrauschten Bändern, sondern perfekte Aufnahmen aus dem Jetzt. "Ich wollte einfach, dass es nach jungen Leuten klingt", erklärt Melián die Idee dahinter. "Sie waren ja alle jung, als das passierte, als sie aus dem KZ kamen oder aus Russland zurückkehrten." In ihren Geschichten schildern sie den Alltag und wie sich dort langsam das Regime mit all seinen Auswirkungen bemerkbar machte.
Atmosphärische Musik
Nah an dem, was die Menschen damals erlebt haben, an den Orten, wo sie waren, sind die Memory Loops kurze Hörstücke. Die Musik dazu komponierte Michaela Melián, benutzte aber Samples von jüdischen Musikern und Komponisten jener Zeit, die mit der Ideologie der Nationalsozialisten kollidierten. "Karl Amadeus Hartmann hatte damals Berufsverbot, Coco Schumann durfte nicht auftreten und Mendelssohn-Bartholdy konnte nur noch im jüdischen Kulturbund von jüdischen Musikern für ein jüdisches Publikum gespielt werden – das sind Sachen, die ich unterschwellig als Information mit einspeise."
Memory Maps im NetzAuf der Homepage des Projektes kann man 300 blaue Kreise auf einem gezeichneten Stadtplan anklicken und hört, was sich in der eigenen Nachbarschaft zugetragen hat oder welche Orte eine zentrale Rolle im Terror der Nazis spielten. Der Bayerische Rundfunk, der bei der Produktion entsprechende Unterstützung lieferte, wird die Memory Loops auch als Hörspiel ausstrahlen. In einer Reihe von Museen kann man mp3-Player ausleihen und sich bei einem Spaziergang erinnern. So ist Memory Loops als Denkmal über die gesamte Stadt verteilt – jenseits von monumentalen Denkmälern: "Ich wollte über die Medien gehen, die auch die gesamte Freizeit von jüngeren Leuten und auch ihr Berufsleben dominieren: Internet und Mobiltelefon. Die Menschen halten sich in ihrer Freizeit öfter im Internet auf als in irgendwelchen sozialen, öffentlichen Orten."
Viele Orte des Nachdenkens
München war ein zentraler Ort für das Nazi-Regime; genau deshalb spielt es heute eine große Rolle, wo und in welcher Form hier der Opfer gedacht wird, die verfolgt, ausgegrenzt und ermordet wurden. Dass Michaela Melián die Vorgaben für "Neue Formen des Erinnerns und Gedenkens" so konsequent umsetzte, hatte zunächst fast einen kleinen Skandal zur Folge. Doch wo die realen Orte zur Erinnerung fehlen, muss man eben neue Orte finden: im Radio, im Internet oder per Telefonanruf.
Autor: Renate Heilmeier
Redaktion: Klaus Gehrke