Volksfest im Dreivierteltakt
29. Januar 2014Es ist kalt auf dem Theaterplatz vor der Semperoper, um die null Grad Celsius, es regnet, doch das kümmert hier niemanden. Die Menschen haben Regenschirme aufgespannt, sich aus Müllsäcken provisorische Regenumhänge gebastelt oder Hüte aus alten Zeitungen. Auf der Bühne stehen die Schlagerlegenden Roberto Blanco, 75, und Gotthilf Fischer, 84. Die beiden haben mit der Menge ein Lied einstudiert, Fischer hebt einen Arm, und alle fangen an zu singen. "Dresden, Dresden - ha ha ha ha ha", tönt es aus 10.000 Kehlen, auf die Melodie des Partyschlagers "Moskau". Die Menschen tanzen ausgelassen.
Ein Abend Anfang Februar, Opernball in Dresden. Es ist ein Abend, der scheinbar Gegensätzliches vereint. Drinnen in der Semperoper: Promis, Ballkleider und Smoking, Hummer und Champagner, die VIP-Karte für 990 bis 1900 Euro. Draußen auf dem Theaterplatz: Menschen wie du und ich, lange Unterhosen und Fellmäntel, Bratwurst und Glühwein, Feiern für umsonst. Drinnen Hochkultur, draußen Volkstümlichkeit. Der rote Teppich, über den die 2200 zahlenden Gäste ins Opernhaus flanieren, verbindet die beiden Welten.
Die Erfindung des Public Viewing
Der Inbegriff der rauschenden Ballnacht für die sich selbst feiernde High Society ist der Wiener Opernball. Seit einigen Jahren jedoch kommt einem noch eine andere Stadt in den Sinn: Dresden. Inzwischen ist der dortige Semperopernball eine eigene Marke, als eines der größten gesellschaftlichen Ereignisse des Jahres in Deutschland wird er von Jahr zu Jahr bekannter. In diesem Jahr findet er am 7. Februar statt, das Motto: "Dresden glitzert".
Nach der Premiere im Jahr 1925 gab es in der Semperoper fast jedes Jahr einen Ball – bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Am 13. Februar 1945 fielen Bomben, sie zerstörten auch das Opernhaus. Jahrzehnte später wurde es wieder aufgebaut, 1985 neu eröffnet. Doch erst seit 2006 gibt es den modernen Semperopernball. Damals begann das, was den Ball bis heute einzigartig macht: Während sich drinnen die Paare im Dreivierteltakt drehen, steigt auf dem Platz vor der Oper eine riesige Party. Mit einer Videoleinwand, die den Ball von drinnen nach draußen überträgt, aber auch mit eigenen Show-Acts. Im vergangenen Jahr gab es zum Beispiel waghalsige Akrobaten auf einem Trampolin zu bestaunen. Praktisch für die Gäste draußen, dass so etwas dann passiert, wenn die Besucher drinnen langatmigen Preisverleihungen und Dankesreden lauschen müssen.
Beim ersten Mal kamen 4000 Gäste zum Open-Air-Ball. Auf der Leinwand verfolgten sie die Gala in der Oper - und feierten gleichzeitig ihr eigenes Fest. Im darauffolgenden Sommer, während der Fußballweltmeisterschaft, war das sogenannte Public Viewing die Lieblingsbeschäftigung der Deutschen. Abends ging man in die Kneipe oder in den Biergarten und schaute sich gemeinsam die Spiele an. Im Sommer 2006 war Deutschland von Videoleinwänden überzogen. Erfunden worden aber war das Public Viewing im Winter zuvor - beim Semperopernball in Dresden.
Danach die Wiederholung im Fernsehen
Inzwischen kommen jedes Jahr 10.000 Besucher zum Open-Air-Ball. Warum um Himmels willen tun sie sich das an, bei Regen, Schnee und Kälte? Die Menschen könnten es so einfach haben: Sie könnten sich zu Hause aufs Sofa fläzen und im Fernsehen die Gala anschauen. Stattdessen packen sie Piccolo-Sektflaschen in den Rucksack und stellen sich auf den Theaterplatz. Stundenlang.
Am besten fragt man Hanns-Jochen Kügler. Der 60-Jährige ist mit seiner Lebensgefährtin seit dem ersten Jahr dabei. Sie kommen früh, um den besten Platz direkt vor der Leinwand zu ergattern. "Von da können wir alles sehen", sagt Kügler. Der Open-Air-Ball ist der Höhepunkt des Jahres. "Die Stimmung ist einmalig." Klar könnten er und seine Partnerin sich Flanierkarten für 235 Euro pro Stück leisten. Damit könnten sie ab 22.30 Uhr in die Oper, Stars gucken. Wollen sie aber gar nicht. Lieber feiern sie draußen, gehen vor Mitternacht nach Hause - und schauen sich die Wiederholung der Gala im Fernsehen an. Manchmal sehen sie dann ihre eigenen Gesichter.
Weltrekord im Walzertanzen
Wie passt das zusammen, Glamour drinnen und Volksfest draußen? "Fantastisch", findet der Ball-Chef Hans-Joachim Frey. Das Konzept sei von Anfang an auf die Verbindung von Innen- und Außenball angelegt gewesen. Während der Show in der Oper wird nämlich nicht nur von drinnen nach draußen übertragen - sondern auch umgekehrt. Das schönste Bild des Abends aber, das Eröffnungsfeuerwerk, ist nur im Freien zu sehen. "Die Menschen draußen haben das Gefühl, das ist ihr Ball", sagt Frey.
Im vergangenen Jahr stellten die Feiernden einen Weltrekord auf. 1966 Paare tanzten gleichzeitig Walzer - so viele wie nirgendwo zuvor. Dann setzte wieder Regen ein, doch das störte niemanden. Die Regenschirme ergaben auf der Videoleinwand ein lustiges Mosaik. Und irgendwann interessierte es draußen keinen mehr, was drinnen los war. Das ist wahrscheinlich das Beste, was dem Open-Air-Ball passieren kann.