SPD - älteste demokratische Partei Europas
29. Mai 2013Jede Partei hat ihren Gründungsmythos. Für eine der ältesten demokratischen Parteien der Welt gilt, dass dieser Mythos dementsprechend lange zurückreichen muss. So liegt die Geburtsstunde der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) in jener längst vergangenen Epoche, in der vormals rechtlose Arbeiter begannen, sich gegen Unternehmerpatriarchen aufzulehnen. Dass sie dies organisiert und politisch schlagkräftig taten, hatten sie vor allem einer Person zu verdanken: Ferdinand Lassalle. Am 23. Mai 1863 war der wohlhabende Kaufmannssohn die treibende Kraft hinter der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins im sächsischen Leipzig. 150 Jahre später gilt Lassalle damit als einer der Mitbegründer der Sozialdemokratischen Bewegung, die sich bis zum Ende des 19.Jahrunderts zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) weiterentwickelte. "Die Botschaft des Gründers war", erinnert sich der langjährige SPD-Spitzenpolitiker Erhard Eppler: "Wenn ihr Arbeiter eure Position verändern wollt, dann müsst ihr den Staat verpflichten, euch zu gleichberechtigten und auch ökonomisch abgesicherten Staatsbürgern zu machen."
Durch die Arbeitervereine und die junge Sozialdemokratie erhielten mittellose Tagelöhner erstmals die Möglichkeit, sich beruflich wie politisch weiterzubilden. Über die Hälfte der Bürger im Land waren damals Analphabeten, ein freies und geheimes Wahlrecht gab es nicht. Der frühere Generalsekretär und ehemalige SPD-Chef Franz Müntefering erinnert sich gerne an die Geschichte jener zehn Männer, die damals als Zigarettendreher arbeiteten: "Neun machten die Arbeit, und einer saß davor und las aus einem Buch vor, das man gemeinsam gekauft hatte, damit man ein bisschen politische und gesellschaftliche Bildung bekam." Lassalles Versprechen, dass sozialer Aufstieg durch Bildung möglich ist, gilt der SPD noch heute als eine zentrale Forderung.
Verfolgung, Radikalisierung und Widerstand der Sozialdemokratie
"Von dem Augenblick an, wo dieser Verein auch nur 100.000 deutsche Arbeiter umfasst", schreibt Lassalle im ersten Parteiprogramm der jungen Sozialdemokratie, "wird er bereits eine Macht sein, mit welcher jeder rechnen muss." Er sollte Recht behalten: denn schnell wurde in der Zeit des Deutschen Kaiserreiches, dem ersten deutschen Nationalstaat von 1871 bis 1918, aus der Arbeiterpartei eine Massenpartei mit bis zu einer Million Mitgliedern. Bei Wahlen errang sie ein Drittel der Stimmen. Die Sozialdemokraten waren politisch so erfolgreich, dass sie vom damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck mit den sogenannten Sozialistengesetzen verboten wurden. Für zwölf Jahre wurden die gewerkschaftsnahen Sozialdemokraten geächtet, gedemütigt und zur Emigration gezwungen. "Letztlich haben die Sozialistengesetze der Sozialdemokratie sogar geholfen", sagt die einstige SPD-Führungsfigur Erhard Eppler, "denn die SPD hatte ihre Märtyrer, und es wurde sehr schnell bemerkt, unterdrücken kann man uns nicht, weil die Zahl der Arbeiter einfach rasch zugenommen hat."
Die Verfolgung führte allerdings zur Radikalisierung eines Teils der Partei. Denn mehr und mehr Sozialdemokraten verschrieben sich den Gedanken des revolutionären Marxismus, der einen Sturz der herrschenden Ordnung und ein neues politisches System ohne Klassenunterschiede und Privateigentum vorsah. Das führte gegen Ende des ersten Weltkrieges im November 1918 unweigerlich zur Spaltung der Arbeiterbewegung in reformorientierte und revolutionäre Kräfte. Als Deutschlands letzter Kaiser Wilhelm II. abdankte, riefen die beiden sozialdemokratischen Lager am 9. November 1918 zeitgleich unterschiedliche Republikneugründungen aus. SPD-Mitglied Philipp Scheidemann verkündete vom Berliner Reichstag eine gemäßigt demokratische Republik, Karl Liebknecht sprach sich dagegen für eine sozialistisch-kommunistische Variante aus.
Wenig später allerdings, in den 1920er und 1930er-Jahren, verband sich mit dem Namen der Sozialdemokratie auch das Scheitern der ersten großen Phase der Demokratie auf deutschem Boden. Die Weimarer Republik von 1918 bis 1933, gegründet und getragen von den gemäßigten Mehrheitssozialdemokraten, war politisch instabil, die wirtschaftliche Lage durch Hyperinflation und Massenarbeitslosigkeit in weiten Teilen gar aussichtslos. Dem Aufstieg der Nationalsozialisten unter Adolf Hitler konnten diese schwachen demokratischen Strukturen nichts mehr entgegensetzen. Nur so viel: Alle 94 SPD-Abgeordneten im damaligen Reichstagsparlament stimmten am 23. März 1933 gegen jenes Ermächtigungsgesetz, mit dem Hitler die Demokratie in Deutschland zugunsten seiner Willkürherrschaft abschaffte. "Freiheit und Leben kann man uns nehmen", sagte SPD-Mitglied Otto Wels damals, "die Ehre nicht." Für den langjährigen SPD-Bundesvorsitzenden Hans-Jochen Vogel gilt diese letztlich erfolglose Auflehnung gegen das Nazi-Regime noch heute als eine der Sternstunden der deutschen Demokratie, "denn alle anderen Parteien haben zugestimmt."
Von der Arbeiterpartei zur modernen Volkspartei
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde aus der SPD eine linke Volkspartei, die vor allem in den ersten Nachkriegsjahren mit sich selbst beschäftigt war. Während konservative Regierungsparteien Deutschlands den Wirtschaftsaufschwung nach kapitalistischen Regeln vorantrieben, korrigierte die SPD ihre antikapitalistische Grundhaltung. Im Godesberger Programm von 1959 bekannte sich die Partei zur Markwirtschaft, allerdings mit starken sozialen Sicherungssystemen. Für den ehemaligen Parteichef und Generalsekretär Franz Müntefering kommt das Grundsatzdokument symbolisch der Neugründung seiner Partei gleich. "Es war das erste Mal, dass alle, die sich zu den Ideen der Sozialdemokratie bekennen, eingeladen waren mitzumachen."
Mit dem Beginn der großen Koalition von 1966 begann schließlich das sozialdemokratisch geprägte Jahrzehnt im Nachkriegsdeutschland. Hatten SPD-Politiker verschiedener Generationen zuvor das allgemeine und gleiche Wahlrecht, das Frauenwahlrecht, den Acht-Stunden-Arbeitstag und die Aufwertung der Gewerkschaften im deutschen Sozialstaat verankert, so legte der sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt ab 1969 sein Augenmerk vor allem auf eine Friedens- und Aussöhnungspolitik mit den sozialistischen Staaten Osteuropas. Brandt erhält 1971 den Friedensnobelpreis für seinen Kniefall von Warschau, mit dem er sich als deutscher Bundeskanzler symbolisch für die Verbrechen der Nazi-Diktatur beim polnischen Volk entschuldigte. Für Egon Bahr, Architekt der brandtschen Ostpolitik, noch heute ein bewegender Moment: "Es war der Instinkt eines Augenblickes, der ihn zu einer Geste bewogen hat, durch die einer, der persönlich keine Schuld trug, um Vergebung bat für die Schuld seines Volkes."
Eine Volkspartei zwischen Sinnkrise und Neubeginn
Vor allem in den Jahren vor und nach der friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands durch den Fall der Mauer 1989 konnte die SPD politisch nicht mitgestalten. Helmut Kohl (CDU) galt als "Kanzler der Einheit", was die konservativ-bürgerlichen Parteien über viele Jahre auf die Regierungsbank brachte. Die Sozialdemokraten dagegen wurden bis 1998 auf die Oppositionsbank im Deutschen Bundestag verbannt. Erst der Regierungswechsel gab der SPD Mut zur Erneuerung. Der sozialdemokratische Kanzler Gerhard Schröder baute die einstige Arbeiterpartei SPD zur einer Partei der "neuen Mitte" um, die für Angestellte, Freiberufler und Menschen aus dem schrumpfenden Arbeitermilieu gleichermaßen wählbar sein sollte. Hohe Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Rezession veranlassten die Sozialdemokraten allerdings, mit dem Reformkonzept der "Agenda 2010" einen radikalen Umbau des Arbeitsmarkt- und Sozialsystems einzuläuten.
Traditionelle Wählerschichten der Partei, Industriearbeiter und Geringverdiener, wandten sich von der SPD ab, was die Partei vor allem nach dem Ende der Kanzlerschaft Schröders (2005) in eine jahrelange Sinnkrise stürzte.
Für SPD-Urgestein Erhard Eppler ist der Gründungsauftrag der SPD allerdings aktueller denn je. Denn gerade heute gelte es zu verhindern, dass die Demokratie nach den Spielregeln des Marktes umgebaut wird: "Das wäre gar keine Demokratie mehr, wenn die Märkte bestimmen, was geschieht." Der Auftrag der Sozialdemokraten sei es deshalb, so Eppler, den Markt so zu gestalten, dass er auch im 21. Jahrhundert mit der Demokratie zusammenpasst."Das ist eine Aufgabe, die nicht geringer ist als die, die am Anfang der Sozialdemokratie stand."