Vom IS verschleppt - in Deutschland betreut
15. Oktober 2015Für die Dschiadisten des IS sind jesidische Frauen eine Ware, mit der sie machen können, was sie wollen. Auf ihrem selbsternannten Kreuzzug im Irak und Syrien gehen die Terroristen gnadenlos vor. Auf Basaren verkaufen sie die Frauen und missbrauchen sie als Sexsklavinnen. Bisher gelang etwa 2000 der gefangenen Jesidinnen die Flucht.
Das Schicksal dieser traumatisierten Frauen hat den Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, schockiert. Quasi im Alleingang hat der Grünen-Politiker ein Sonderprogramm ins Leben gerufen: Bis zu 1000 Frauen will er bis Jahresende nach Deutschland holen. 30 Millionen Euro lässt er sich dieses Hilfsprojekt kosten.
Ein neues Leben in Deutschland
Eine von ihnen ist Lea. Ihren richtigen Namen will sie nicht öffentlich nennen, aber ihre Geschichte, die will sie nicht länger für sich behalten. Zwei Monate und 16 Tage sei sie eine Gefangene des IS gewesen. "Das Leben", so die 22-Jährige, "das war die Hölle. Selbst wenn wir geweint haben, haben sie uns nur geschlagen. Es gab kein Essen, wir konnten uns nicht waschen. Wir haben zu Gott gebetet, dass wir sterben. Aber wir konnten nicht. Jede von uns wurde von einem IS-Mann mitgenommen. Bei Frauen, die nicht mitgehen wollten, haben sie Gewalt angewandt: ihnen den Arm gebrochen oder den Kopf mit einem Gewehr eingeschlagen."
Lea ist eine kleine, zarte Frau. Ihre Augenbrauen sind gezupft und in ihren Händen hält sie ein Smartphone. Sie ist bei Facebook, so hält sie Kontakt zur Familie: Zu ihrem Bruder, der im Flüchtlingslager in Dohuk im Nordirak zurückbleiben musste. Oder zu ihren beiden Schwägerinnen, die zwar mit dem selben Programm nach Süddeutschland gekommen sind, aber in einer weit entfernten Stadt untergebracht wurden.
Lea lebt gemeinsam mit ihrer ältesten Schwester in einer betreuten Wohngemeinschaft. Den Namen der Stadt dürfen wir nicht nennen. "Das Sicherheitskonzept bei der Unterbringung", so der zuständige Staatssekretär Klaus-Peter Murawski, "ist so wie bei einem Frauenhaus: Wir gehen mit einem Höchstmaß an Diskretion vor." Bisher sind knapp 500 Frauen nach Deutschland gekommen.
Eine Geste, keine Lösung
Ausgewählt hat sie Jan Ilhan Kizilhan. Er ist Psychologe und Traumaexperte. Mit einer kleinen Delegation reist er regelmäßig in den Nordirak, um dort seine schwierige Mission zu erfüllen. Die Vorgaben, wer ins Programm aufgenommen wird, sind klar, so Kizilhan: "Frauen, die in Händen des IS waren, sich befreien konnten und schutzbedürftig sind, das heißt eine Traumastörung oder eine andere Erkrankung auf Grund ihrer Geiselhaft vorweisen." Doch die Auswahl fällt ihm schwer. "Dort sind ca. 120.000 Menschen, die eine psychosoziale und medizinische Versorgung brauchen würden. Es ist nicht einfach, Personen nicht in das Kontingent aufzunehmen." Doch es gibt nur noch knapp 500 freie Plätze. Das Sonderprogramm, es ist eine Geste, keine Lösung des Problems.
Dass man 1000 Frauen auswähle, das sei nicht gerecht, so Salah Ahmad. Der deutsche Psychologe mit kurdischen Wurzeln arbeitet seit zehn Jahren mit Kriegs- und Folteropfern im Nordirak. Die 30 Millionen Euro für das Hilfsprogramm könnten vor Ort viel effektiver eingesetzt werden, kritisiert der Traumaexperte Ahmad.
Gerade überwacht er die letzten Bauarbeiten für ein Behandlungszentrum nur für jesidische Frauen in nordirakischen Chamchamal, finanziert durch Spenden, Misereor und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. "Bei den Jesiden gibt es einen sehr großen sozialen Zusammenhalt, nicht nur in der Familie, auch innerhalb der Dorfgemeinschaft. Wenn man nun eine Frau aus der Gemeinschaft raus nimmt und nach Deutschland bringt, dann ist das für die Betroffene psychisch schwer zu ertragen."
Hohe Selbstmordrate
Deshalb baut Ahmad mit seiner Hilfsorganisation Jiyan Foundation Behandlungszentren für Folteropfer in den Flüchtlingslagern auf. "Die Frauen werden stationär oder ambulant behandelt. Ihre Familienangehörigen können sie besuchen. Wir binden in der Regel die Mutter als Co-Therapeutin ein, damit sie ein Auge auf ihre Tochter hat und uns bei Bedarf informieren kann." Denn vor allem bei den missbrauchten jesidischen Frauen sei die Selbstmordrate sehr hoch.
Gerade hat Ahmads Organisation 20 neue Traumatologen ausgebildet, um den Flüchtlingen vor Ort zu helfen. Aber auch der Psychologe gibt zu, dass er damit nur einem Bruchteil der Bedürftigen helfen kann. "Wir brauchen 2000 Therapeuten und nicht nur 20. Denn der Krieg, der geht leider weiter."
Die Unsicherheit bleibt
Auch Lea in Süddeutschland leidet unter der Trennung. Wären die Zustände im Flüchtlingslager in Dohuk im Nordirak nur etwas besser gewesen, dann wäre sie lieber geblieben. Aber im Camp habe es nichts gegeben: keinen Platz, kaum sauberes Wasser und keine medizinische Betreuung. Jetzt ist die junge Frau in Sicherheit, versorgt und behütet. Aber ihr größter Kummer ist geblieben: Sie weiß nicht, ob ihre Eltern noch leben. Von den 1700 Bewohnern ihres Heimatdorfes im Sindschar-Gebirge seien immer noch 1200 verschollen.
"Wir sind alle wütend. Das geht nun schon über ein Jahr so. Wir haben genug von diesem Leben, wir können so nicht weiter machen. Niemand an unserer Stelle könnte das erdulden. Aber wir lassen uns nicht unterkriegen, die Not macht uns noch stärker." Die Stimme der zarten Frau wird laut. Sie ist wütend. Sie will etwas tun. Deshalb erzählt sie ihre Geschichte, damit die Welt nicht vergisst, dass noch Tausende Frauen in der Gefangenschaft der Terrormiliz IS leiden.