Türkei boomt
23. August 2012Ein stolzes Volk wie die Türken vergisst Schmähungen nicht so schnell. Noch vor ein paar Jahren sei sein Land als "kranker Mann" tituliert worden, sagte der türkische Wirtschaftsminister Zafer Caglayan kürzlich mit Blick auf die Europäer. Und er fügte mit einem Unterton der Genugtuung hinzu: "Diejenigen, die das sagten, liegen heute selbst auf der Intensivstation."
Seit einem katastrophalen Wirtschaftskollaps im Jahr 2001 erlebt die Türkei ein Wirtschaftswunder, das den ehemals "kranken Mann" in die Gruppe der 20 stärksten Volkswirtschaften der Welt katapultiert hat. Das Erfolgserlebnis der Türken lässt sich aber nur zum Teil auf den EU-Krisenstaat Griechenland übertragen.
Vergleichbare Ausgangssituationen, verschiedene Lösungen
Dabei sind einige Ausgangspunkte der Krisen in der Türkei und Griechenland durchaus vergleichbar: Beide Länder wurden unter anderem durch weit verbreitete Korruption und Vetternwirtschaft an den Rand des Staatsbankrotts gebracht; die Wirtschaftskrise wurde von einer Glaubwürdigkeitskrise des gesamten politischen Systems begleitet. Auch Ankara war zu schwach, um sich aus eigener Kraft aus dem Sumpf zu ziehen. Hilfe und eine - mitunter unpopuläre - Mitsprache aus dem Ausland wurden zwingend notwendig.
Doch in den Methoden und Möglichkeiten der Krisenbewältigung unterschieden sich die beiden Länder beträchtlich. Anders als das Euro-Mitglied Griechenland, konnte die Türkei ihre Landeswährung abwerten, um die Wirtschaft anzukurbeln. Auch auf der politischen Ebene gab es einen entscheidenden Unterschied: In Griechenland gab es für viele Wähler keine glaubwürdige Alternative zu den abgewirtschafteten etablierten Parteien. In der Türkei dagegen fegten die Wähler im November 2002 fast alle damals vertretenen Parteien aus dem Parlament und gaben einer unverbrauchten Kraft eine Chance: der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Recep Tayyip Erdogan. Ein radikaler Neuanfang wurde möglich.
IWF, Privatisierungen und Öffnung für ausländisches Kapital
Die wohl größte wirtschaftspolitische Leistung der AKP in den ersten Jahren ihrer Regierung bestand in der Wahrung innenpolitischer Stabilität und in der Entschlossenheit, ein strenges Reformpaket unangetastet zu lassen. Dieses war den Vorgängern der AKP vom Internationalen Währungsfonds (IWF) auferlegt worden. Das ermöglichte der Türkei nicht nur den Zugang zu dringend nötigen Milliardenkrediten, sondern auch eine Modernisierung der ganzen Wirtschaft. Der Erfolg dieser Reformen zeigte sich in der internationalen Bankenkrise der vergangenen Jahre: Der türkische Bankensektor, der 2001 zusammengebrochen und anschließend neu aufgebaut worden war, widerstand den globalen Turbulenzen ohne größere Schäden.
Gleichzeitig privatisierte die AKP-Regierung türkische Staatsbetriebe so schnell und so gewinnbringend wie möglich. Die neue Politik zog immer stärker ausländisches Kapital an. Allein im vergangenen Jahr flossen nach Regierungsangaben fast 16 Milliarden US-Dollar ins Land. Dabei spielen Investoren aus dem arabischen Raum eine immer größere Rolle. Um Anlegern aus den reichen Golf-Staaten den Immobilienbesitz in der Türkei zu erleichtern, änderte das Parlament in Ankara erst vor kurzem das entsprechende Gesetz.
Lehren für die Griechen
Die Reformen führten in der Türkei zu einem Wirtschaftswachstum von insgesamt 59 Prozent in den vergangenen zehn Jahren, so Faruk Sen, langjähriger Leiter des Essener Zentrums für Türkeistudien und heute Vorstandsmitglied des Istanbuler Forschungsinstituts Tavak, im Interview mit der Deutschen Welle. Das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung hat sich mehr als verdoppelt, Milliardensummen flossen in Infrastrukturprojekte wie Straßen, Tunnel und neue Eisenbahnverbindungen.
Bei allen Unterschieden zur Entwicklung in Griechenland sieht Sen in der türkischen Erfolgsgeschichte eine wichtige Lehre für Athen: "Die Türkei hat in den produzierenden Bereich investiert." Das Land sei etwa heute ein wichtiger Standort für die internationale Autoindustrie. Das produzierende Gewerbe spiele auch bei den rund 5000 deutschen Firmen, die inzwischen Niederlassungen in der Türkei haben, eine bedeutende Rolle. In Griechenland fehle dieser Schlüsselbereich dagegen fast völlig: "Nur mit Tourismus und Handel kann sich ein Land nicht reformieren", sagt Sen.
Zunehmende Distanz zur EU
Der wirtschaftliche Aufstieg hat die Türkei selbstbewusster gemacht - aber auch die Distanz zu Europa vergrößert. Die EU wird als wirtschaftlicher Krisenherd gesehen, der für die Türkei eher schädlich als nützlich sein kann.
Nach einer Untersuchung von Sens Forschungsinstitut Tavak glauben nur noch 17 Prozent der Türken an eine EU-Mitgliedschaft ihres Landes; 2004 lag diese Zahl noch bei 78 Prozent. Die Studie zeigt, wo die Türken heute den "kranken Mann" sehen: Fast vier von fünf der befragten Wähler sind der Ansicht, dass ihr Land die EU wirtschaftlich nicht mehr braucht.