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Vom Matratzenlager zum Vorzeigeprojekt

Naomi Conrad, Berlin 10. Januar 2014

Ein ehemaliges "Problemhaus" wird zu einem Beispiel der gelungenen Integration von Roma - und damit gleich zu einem Medienereignis. Aber die Vorurteile bleiben.

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Arnold-Fortuin-Haus in Berlin - (Foto: Naomi Conrad/DW)
Bild: Naomi Conrad

Der Sozialarbeiter am anderen Ende der Leitung holt tief Luft: Ob man nicht vielleicht eine E-Mail mit der Interviewanfrage schreiben könne? Er wolle wirklich nicht unhöflich sein, aber seit Tagen klingele das Telefon der Berliner Beratungsstelle "südost Europa Kultur e.V." fast ununterbrochen: Natürlich könne er verstehen, dass die Journalisten gerne ein Interview hätten - und das so schnell wie möglich. "Aber Sie müssen verstehen, das hält uns von unserer Arbeit ab." Dann legt er den Hörer auf.

In Deutschland stehen Migranten aus Osteuropa und die Anlaufstellen, die sie beraten, im Fokus der Medien, seitdem eine Debatte über die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union entbrannt ist: Ausgelöst wurde sie in den Neujahrstagen von einem Positionspapier der CSU, in dem die Partei vor einer massenhaften Einwanderung aus Rumänien und Bulgarien in die deutschen Sozialsysteme warnt und härtere Gegenmaßnahmen fordert. Hintergrund ist die völlige Freizügigkeit für Bürger aus Bulgarien und Rumänien, die am 1. Januar dieses Jahres in Kraft trat.

Zwar gehen über 70 Prozent der Bulgaren und Rumänen, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland gezogen sind, einer Erwerbstätigkeit nach. Doch gleichzeitig gibt es auch die anderen Einwanderer aus den beiden Staaten: Sogenannte "Armutsmigranten" der Roma-Minderheit, die in ihren Heimatländern ausgegrenzt und diskriminiert werden und oft über eine nur geringe Bildung verfügen. Das sind genau jene Menschen also, vor denen die CSU in ihrem Papier warnt. Ob ihnen tatsächlich Sozialhilfe zusteht, wird derzeit vor den Gerichten ausgefochten - bis hin zum Europäischen Gerichtshof.

Rassimus und Vorurteile?

Bosiljka Schedlich vom Südost Europa Kultur e.V. - (Foto: Naomi Conrad/DW)
Schedlich: "Roma werden alte Vorurteilen auferlegt"Bild: Naomi Conrad

Dass es Roma gibt, die als Armutsmigranten nach Deutschland kommen und sich mit Hilfsarbeiten und Betteln durchschlagen, will Bosiljka Schedlich, die quirlige Geschäftsführerin von "südost Europa" gar nicht bestreiten. Die Beratungsstelle hilft Roma, die in Parkanlagen, in Autos oder baufälligen Häusern, sozusagen "Stadtruinen" hausen. Die Sozialarbeiter vermitteln ihnen Ärzte, die kostenlose Behandlungen durchführen, und zeigen ihnen auch mal, wie man eine Fahrkarte löst. In der Küche wuseln ein paar Jugendliche um den Kaffeeautomaten herum, Gespräche in Romanes und Deutsch fliegen durcheinander. Sie sind die Teilnehmer eines Nachhilfe- und Ausbildungsprogrammes für junge Roma. Einige von ihnen, sagt Schedlich stolz, werden den Sprung in eine Berufsausbildung, vielleicht sogar ein Studium schaffen. Sie lächelt: "Es gelingt, wenn man ihnen eine Chance gibt." Sie meint damit Integration und sozialen Aufstieg.

Die Jugendlichen werden dann zu den Menschen gehören, die in der jetzigen Debatte laut Schedlich unsichtbar bleiben: Die Gruppe der gebildeten Roma, die in Rumänien und Bulgarien als Ärzte, Ingenieure und Wissenschaftler arbeiten. Aber auch in Deutschland gebe es "bestens integrierte Akademiker". Oft seien sie die Kinder von Roma-Gastarbeitern oder Flüchtlingen, die während der Jugoslawien-Kriege nach Deutschland kamen. Menschen also, die sie gerne als positive Beispiele vorstellen würde, um die Vorurteile in der Gesellschaft und Politik abzubauen. Doch viele wollen das nicht, sagt Schedlich und stellt ihre Kaffeetasse ab: Ein Freund von ihr etwa, ein angesehener Arzt in einem schicken Berliner Vorort, verheimliche, dass er Roma sei. Zu groß sei die Angst, dass seine Berliner Patienten sonst seine Praxis meiden. Der Rassismus in Deutschland sei leider weit verbreitet, seufzt Schedlich. Sie könne schon verstehen, warum der Freund unerkannt bleiben wolle, "auch wenn es schade ist".

Vom Müllhaus zum Vorzeigeprojekt

Junge auf Fahrrad im Innenhof - (Foto: Britta Pedersen/dpa)
Im Fortuin-Haus wohnen etwa 600 Menschen, darunter viele RomaBild: picture-alliance/dpa

Vielleicht kommen deshalb immer wieder Journalisten in das Berliner Büro von Benjamin Marx, in dem sich leere Kaffeetassen stapeln. "Wenn Sie wüssten, wer schon alles schon da saß, wo Sie gerade sitzen." Marx breitet die Hände aus: Japanische Journalisten, englische Kollegen von Al-Jazeera und der BBC, selbst der amerikanische Botschafter und die Vorsitzenden von Migrationsräten, "ich kenne die Leute alle gar nicht." Die Boulevardpresse hat schon längst Hausverbot. Marx lächelt süffisant: Sie alle kommen in sein Büro in der Harzer Straße in Berlin Neukölln, von wo aus er die Immobilie verwaltet. Sie suchen nach dem "Positivbeispiel, dass es funktionieren kann". Der Mittfünfziger, in dessen Stimme sich oft ein Hauch leiser Ironie legt, meint damit die Umwandlung eines "Problemhauses" mit überfüllten Matratzenlagern und Müllbergen in ein preisgekröntes Vorzeigeprojekt der gelungenen Integration.

Er erzählt geübt die Geschichte, wie er 2011 als Projektleiter der katholischen Aachener Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft die Immobilie begutachten sollte und im Innenhof Müllberge, spielende Kinder und Ratten vorfand. Wie der Projektleiter nicht lange überlegte, sondern das Haus kaufte, die freiliegenden Leitungen beseitigte und die ersten Wohnungen sanierte. Danach seien die Matratzenlager fast von allein verschwunden, weil nur in Berlin gemeldete Roma bleiben durften. Dann bekam das Haus den Namen "Arnold Fortuin". Der Pastor, der im Zweiten Weltkrieg Roma vor den Konzentrationslagern rettete, war der Religionslehrer von Benjamin Marx.

Armut, nicht Menschen bekämpfen

Benjamin Marx (Arnold-Fortuin-Haus) - (Foto: Naomi Conrad/DW)
Marx: "Wenn CSU-Chef Seehofer kommen will, dann zeige ich ihm das Projekt"Bild: Naomi Conrad

Im Innenhof zeigt Marx auf ein paar Tannenbäume, um die eine Lichterkette gewickelt ist: Dort hätte früher Müll gelegen. Von der Außenwand, die Neuköllner Künstler bunt bemalt haben, blätterte früher die Farbe. Ein paar Handwerker laufen über den Hof, immer wieder hallt Baulärm zwischen den Häusern. Die Sanierung der 137 Wohnungen ist ein fortlaufender Prozess: Zieht eine Familie aus, wird die Wohnung saniert. Die Warteliste sei lang: Auf die letzte Wohnung hätten sich 100 Interessenten gemeldet, darunter Deutsche, Türken, Tunesier, auch weil die Mieten moderat sind. Roma nehme er keine mehr auf, "damit hier kein Ghetto entsteht". Marx ist überzeugt, dass die Probleme der Armutsmigration gelöst werden können, wenn Menschen dezentral untergebracht werden. "Man muss die Armut bekämpfen, nicht die Menschen", sagt er bestimmt.

Ana-Maria Berger nickt. Die Sozialarbeiterin, die vor ein paar Jahren aus Rumänien eingewandert ist, gibt den Roma im Fortuin-Haus Deutschkurse und hilft bei Bewerbungen. Sie weiß, bei welchen Firmen es sich nicht lohnt, eine Bewerbung zu schicken, "weil Roma sowieso keine Chance haben". 12 Roma hat die Hausverwaltung angestellt, um den Innenhof sauber zu halten. Die anderen arbeiten in nächtlichen Putzkolonnen in Supermärkten und Kinos oder auf dem Bau. Einige der jüngeren Roma aber, erzählt Berger stolz, hätten im vergangenen Jahr Jobs als Aushilfskräfte in Geschäften bekommen: Ein kleiner, aber wichtiger sozialer Aufstieg. Auch das, sagt Marx, ist Teil des Positivbeispiels. Er lächelt: Für manche sei das Haus letztlich ein Stachel, den man nicht einfach beseitigen könne. Benjamin Marx meint damit die CSU-Politiker und ihre Haltung gegenüber Armutsmigranten. "Für alle anderen ist es ein Stück Hoffnung."

Dann verabschiedet er sich, sein nächster Gesprächspartner wartet schon im Vorzimmer. Im Innenhof werkeln die Bauarbeiter, zwei Mädchen mit riesigen rosa Schulranzen laufen vorbei und kichern. Ein Mann mit einer dicken Pelzmütze kommt aus einer Haustür. Die Presse? Er schüttelt den Kopf. Nein, es tue ihm sehr leid, aber da solle man sich lieber an Herrn Marx wenden: Er selbst habe schon so oft Fragen beantworten müssen.