Von Arbeit, Geschichte und Entdeckungen
13. Februar 2014Der Chef brüllt. Weil Sauce fehlt, weil irgendetwas runtergefallen ist. Nagima erträgt auch das. Sie ist 18 Jahre alt, es ist Sommer, und Nagima hat kaum mehr als diesen miesen Job als Küchenhilfe. Mit ihrer schwangeren Freundin Anya lebt sie in einer Blechhütte am Stadtrand von Almaty in Kasachstan. Die beiden sind wie Schwestern - seit sie fünf sind und sich im Kinderheim gefunden haben. Nagima bringt Anya Essensreste mit nach Hause, die sie in der Restaurantküche geklaut hat. Der Fernseher läuft, eine Realityshow mit Menschen aus einer anderen Welt. Und dann fängt Anya an zu bluten, kommt zu spät ins Krankenhaus - und stirbt bei der Geburt. Der Säugling kommt ins Waisenhaus, ein Kreis droht sich zu schließen. Nagima bleibt allein zurück.
Engagierte Filmemacherin
Tausende von Kindern leben in Kasachstans Waisenhäusern, erzählt Regisseurin Zhanna Issabayeva. Und sie alle starten unter denkbar schlechten Voraussetzungen ins Leben. Darauf will sie aufmerksam machen. Und auf den sonderbaren Umstand, dass jedes Waisenkind, wenn es 18 wird, erfährt, wer seine Eltern sind. Womit dann, wie bei Nadima, neue Hoffnungen wachsen. Und zerstört werden. Zhanna Issabayeva hat ihren wortarmen, bildstarken und ungemein eindringlichen Film aus eigenen Mitteln finanziert und mit einem sehr kleinen Team in elf Tagen gedreht. Hoffnung, dass er in Kasachstan ins Kino kommt, hat sie nicht. An Arthouse-Produktionen habe man kein Interesse, sagt sie. Aber auf DVD werde der Film schon sein Publikum finden.
Die Berlinale kann ein sehr anstrengendes Festival sein. Schlange stehen für die Tickets, Schlange stehen vor den Kinos, Warten im Halbdunkel. Und jeder Film im Original, die englischen Untertitel nicht immer leicht zu verfolgen. Aber diese Anstrengung lohnt. Wegen all der Einblicke in das Leben und wegen der Begegnungen mit Menschen, die bedingungslos für ihre Kunst leben. John Maloof ist auch so einer. 2007, der Stadthistoriker ist 29 Jahre alt, war er für ein Buchprojekt über Chicago auf der Suche nach alten Stadtansichten. Bei einer Zwangsversteigerung hat er den Zuschlag für einen Karton voll mit unentwickelten Filmrollen und Negativen erhalten. Für sein Projekt taugten die Aufnahmen nicht, aber Maloof erkannte, dass es sich um außerordentliche Bilder handelte. Was folgte, ist eine Geschichte wie aus dem Film.
Entdeckungen...
Niemand kannte die Fotografin Vivian Maier, niemand hatte zuvor eines ihrer Bilder gesehen – Bilder von Kindern, Selbstportraits, und vor allem: herausragende Street Photography. Mit John Maloof hat genau der Richtige diesen Schatz in die Hände bekommen. Denn seit seinem Zufallsfund stellt er sein Leben in den Dienst der 2009 verstorbenen Vivien Maier und ihres Werks. Maloof hat recherchiert, in Amerika und in Frankreich, und hat Vivien Meiers Lebensgeschichte rekonstruiert. Kindermädchen war sie, eine eigenwillige, sehr verschlossene Frau, die immer und überall fotografiert, aber nie etwas veröffentlicht hat. Ihr Nachlass besteht aus hunderttausenden von Fotos - noch immer ist die Katalogisierung nicht abgeschlossen. John Maloof hat für erste Ausstellungen gesorgt - in den USA und in Europa. Es gab Beifallsstürme. Nun ist er zur Berlinale gekommen und hat "Finding Vivian Maier" vorgestellt, die filmische Dokumentation seiner Detektivarbeit. Frei von jeder Eitelkeit, interessant und kurzweilig.
Das unabhängige Kino der Berlinale arbeitet auch Zeitgeschichte auf und findet dafür höchst unterschiedliche Filmsprachen. Die ungewöhnlichste und cineastisch bemerkenswerteste ist zweifellos dem Rumänen Corneliu Porumboiu gelungen. Der zeigt 90 Minuten lang nichts anderes als den leicht verrauschten, tonlosen Videomitschnitt eines Fußballspiels aus dem Jahre 1988, den er aus dem Off zusammen mit seinem Vater kommentiert. Steaua und Dinamo Bukarest trafen im Schneetreiben aufeinander, die einen das Team der Armee, die anderen das der Securitate, des Geheimdienstes. Und Schiedsrichter war der Vater des Filmemachers. Ob der überhaupt neutral sein konnte? Witzig und sehr spontan plaudern Vater und Sohn über Vorteilsregeln, die Vergangenheit, über Spielerschicksale und die Bedingungen filmischen Erzählens. Das ist so kurzweilig
und klug und hintersinnig, dass diese 90 Minuten wie im Fluge vergehen.
Arbeit, Sinn und Sorge
Die einzelnen Sektionen der Berlinale wählen ihre Beiträge allein nach ästhetischen und qualitativen Kriterien aus. Sie setzen keine Themen. Aber immer wieder kommt es vor, dass sich trotzdem Themenschwerpunkte ergeben. In diesem Jahr überrascht die große Anzahl von Beiträgen in Forum wie Panorama, die sich mit Arbeit und Arbeitswelten beschäftigen. Von Mateo, dem 16-jährigen Mexikaner (in "Los Angeles"), wird erwartet, das er die Heimat verlässt, um in Kalifornien Geld für den Familienunterhalt zu verdienen. Eben das muss auch der Koreaner Ho-Chan (in "Ship bun"), der im intriganten Büroalltag schnell alle Illusionen verliert und bald vor den Trümmern seines eigentliches Lebensplanes steht. Ein junger Taiwanese will die Politik mit selbst gebauten "Reis-Bomben" auf die Verdrängung der örtlichen Bauern vom expandierenden Markt aufmerksam machen (in "Bai Mi Zha Dan Ke"), eine junge Japanerin heuert eine ehemalige Freundin an und verwandelt das Büro fortan in eine Hölle, in der mit Stil und ausgeprägter Höflichkeit bösartig Macht ausgeübt wird. Der Druck auf dem Arbeitsmarkt nimmt zu - und das weltweit.
Der eindringlichste dieser Filme aus der Arbeitswelt ist wahrscheinlich die griechisch-deutsche Produktion "Sto spiti/At Home" von Athanasios Karanikolas. Ein ruhiger, gänzlich unaufgeregter Film, der offenbart, wie schnell mit dem Geld auch die Moral verloren geht. Viele Jahre war Nadja Haushälterin in der schicken Oberschichtsfamilie, hat sich um die Tochter wie um ihr eigenes Kind gekümmert - und schien dazu zu gehören. Nadja ging mit zu Einladungen, man aß gemeinsam. Bis die Krise sich auch in die Designervilla hoch über dem flirrenden Meer vorwagt. Da heißt es dann nur noch: "Du weißt, wir lieben dich. Aber es gibt ein Problem". Womit aus der Freundin eine Angestellte mit Migrationshintergrund wird, die man sich nicht mehr leisten kann. Eine bittere Geschichte. Nur das Kino kann sie mit so schönen Bildern erzählen.