"Ein Populismus der Mitte"
25. September 2018Im österreichischen Schloss Eckartsau kamen in diesem Monat internationale Historiker zusammen, um über das Thema "1918-1938-2018: Dawn of an Authoritarian Century" zu diskutieren. Die Tagung beschäftigte sich mit historisch-politischen Themen, die auch heute aktuell und relevant sind. Die zentrale Frage war: Stehen wir vor einer autoritären Wende? Die DW sprach darüber mit dem deutschen Politologen Wolfgang Merkel.
Deutsche Welle: Ihre Forschungsschwerpunkte sind Demokratie und Demokratisierung. Wie gut geht es der heutigen Demokratie?
Wolfgang Merkel: Es gibt Herausforderungen für die Demokratie im 21. Jahrhundert. Ich nenne vier, welche die entwickelten Demokratien noch nicht bewältigt haben und vielleicht auch nie bewältigen. Erstens: Sie entmachtet demokratische Nationalstaaten. Zweitens die sozioökonomische Ungleichheit: Sie unterwandert das Gleichheitsprinzip der Demokratie. Drittens die ethnisch-religiöse Heterogenität. Viertens: ein Ansehensverlust der repräsentativen Institutionen wie Parlamente und Parteien. Eine zusätzliche interne Herausforderung ist das stetige Erstarken einer Parteienfamilie, die zumindest dubiose Merkmale hinsichtlich ihrer Demokratiefähigkeit zeigt. Damit meine ich die Rechtspopulisten.
Weshalb verlieren die Sozialdemokraten an Zuspruch, während die Rechtspopulisten stark zulegen?
Die Sozialdemokratie ist zu stark in die Mitte gerutscht. Sie verfolgt eine zu bürgerliche Politik und ist somit in Deutschland zu wenig unterscheidbar von der CDU. Ein weiteres Motiv ist eine kulturelle Konfliktlinie zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen innerhalb der Sozialdemokratie. Erstere wollen offene Grenzen. Letztere wollen an die Gemeinschaft appellieren und die Grenzen für ökonomische Güter, Staatskompetenzen und Flüchtlinge kontrollieren und schließen. Das durchschneidet die Gesellschaft. Die Sozialdemokratie hat viele traditionelle Wähler in der Arbeiterschaft. Jedoch ist sie mittlerweile zu sehr in den kosmopolitischen Bereich geraten. Der direkte Bezug zu den Arbeitern und ihren Problemen ging verloren, ihre Wähler sind direkt zu den Rechtspopulisten gewechselt.
Die Öffnung von Parteistrukturen - von Bewegung bis Initiative - kommt bei der Bevölkerung gut an. Wieso?
Europaweit gibt es Erfolge von "Movimento Cinque Stelle" in Italien über Mélenchon in Frankreich bis zu "Podemos" in Spanien, und nun auch "Aufstehen" in Deutschland mit Sahra Wagenknecht. Die Liste Kurz ist keine Bewegung, das wäre ein Etikettenschwindel. Aber: Politische Eliten - bis hin zu Macron - wollen der Bevölkerung signalisieren: Wir sind nicht wie die anderen Parteien. Ich würde das einen Populismus der Mitte nennen. Sie distanzieren sich von den ursprünglichen Parteien, führen die Parteien dann relativ autoritär und instrumentalisieren sozusagen das Sentiment gegen die Parteien. Das ähnelt der Strategie der Rechtspopulisten gegen die "Alt-Parteien".
Wie viel Show verträgt die Politik?
Es ist interessant, was wir jetzt erleben, vor allem mit dem populistischen Machtopportunisten im Weißen Haus. Er benutzt eine populistische Taktik, um sich das Wählerreservoir zu sichern. Dazu gehört ein permanenter Tabubruch. Dadurch wird gesichert, dass der Tabubrecher in den Medien erscheint. Wer das ja meisterhaft begonnen hat in den 1980er Jahren war Jörg Haider: Er hat gezündelt mit Waffen-SS, Bruderschaften und so weiter. Trump hat das auf die Spitze getrieben. Er provoziert und erscheint am nächsten Tag in der "New York Times", in der "Washington Post", bei CNN - alles erklärte Gegner von Trump, aber er erscheint auf der ersten Seite.
Kann man das als Trend der Provokation bezeichnen?
Ja, und es zahlt sich wahlpolitisch aus. Selbst wenn negativ berichtet wird, ist das besser als keine Nachrichten. Man hat hier den Eindruck, dass das mächtigste Land der Welt von einem Mann regiert wird, der die Direktive der Welt per Tweet in die Welt absetzt. Da wird Politik über Twitter gemacht. Das zeigt, wie die elektronischen Medien einen Kommunikationsstil fördern, der von oben, an den repräsentativen Institutionen und Parlamenten vorbei, direkt mit dem Volk Kontakt aufnimmt.
Ist das die Zukunft Europas?
Nein. Wir müssen uns darauf besinnen, dass Diskurse auch öffentlich, und nicht nur im digitalen Schatten, ablaufen. Wenn Politik nur noch Show und Provokation wird, ist die Gefahr der Manipulation des Volkes ungeheuer hoch. Eine wichtige Rolle spielen die traditionellen Medien. Nur müssen sie aufpassen, dass sie nicht ihrerseits das Volk belehren, wie etwa damals bei der Flüchtlingswelle 2015. Die Medien sind extrem wichtig, aber sie sollten sich zurückhalten, das Volk erziehen zu wollen.
Demokratie ist für mich…
…die beste Regierungsform.
Das Gespräch führte Katja Heine. Die Autorin absolviert eine Journalismusausbildung an der Katholischen Medien Akademie (KMA). Im Rahmen der Ausbildung an der KMA wurde von der Konferenz berichtet.