Kandidatin umwirbt EU-Abgeordnete
10. Juli 2019374 ist die magische Zahl, die Ursula von der Leyen erreichen muss. Die Kandidatin für das Amt der EU-Kommissionspräsidentin braucht die absolute Mehrheit der 747 Abgeordneten im Europäischen Parlament, die ihr Mandat nach der Europawahl angetreten haben. Vier Sitze sind noch vakant. Das Parlament hat eigentlich 751 Mitglieder. Am Dienstag kommender Woche soll nach der vorläufigen Tagesordnung in Straßburg abgestimmt werden.
Es ist wahrscheinlich, aber noch keineswegs sicher, dass die Abgeordneten mehrheitlich auf der Seite der deutschen Verteidigungsministerin stehen, die der Europäische Rat, also die Versammlung der 28 Staats- und Regierungschefs, vor einer Woche überraschend aus dem Hut gezaubert hatte. Wofür steht die resolute, durchsetzungsstarke Mehrfach-Ministerin aus den Kabinetten von Bundeskanzlerin Angela Merkel europapolitisch? Das weiß keiner der Parlamentarier so genau, außerhalb Deutschlands ist die 60 Jahre alte CDU-Politikerin auch weitgehend unbekannt.
Schaulaufen bei Sozialisten, Liberalen und Grünen
Deshalb hat Ursula von der Leyen bei ihrer bisher einzigen öffentlichen Äußerung vergangene Woche auch versprochen, zuzuhören, möglichst viel mitzunehmen und eine Vision für Europa zu entwickeln. "Hier im Europäischen Parlament schlägt das Herz der europäischen Demokratie," sagte von der Leyen und gelobte den Dialog zu suchen. Solche banalen Ankündigungen reichen den grünen Abgeordneten nicht. Sie fordern konkrete Angebote, sagte die Ko-Vorsitzende der grünen Fraktion, Ska Keller, nach einer ersten "netten" Begegnung.
An diesem Mittwoch ist Ursula von der Leyen bei der sozialdemokratischen, der liberalen und der grünen Fraktion zu Gast, um für ihre Wahl zu werben. Wie konkret die Aussagen über ihre Politik als mögliche EU-Kommissionspräsidentin werden, ist nicht klar. Sozialisten und Liberale trifft sie zudem hinter verschlossenen Türen, nur die Grünen wollen die "Anhörung" live übertragen, kündigte der Abgeordnete Sven Giegold an. Besonders scharfer Gegenwind kommt ausgerechnet von den deutschen Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, mit denen die CDU in Deutschland im Bund ja eine Koalition bildet. Jens Geier, der Chef der nach den Europawahlen auf 16 Abgeordnete geschrumpften SPD-Truppe, sagte, man werde auf keinen Fall für von der Leyen stimmen. Auch die Sozialdemokraten aus Österreich und Großbritannien sähen das ähnlich. Ihr Motto: "Man darf Europa nicht Leyen überlassen."
Keine Festlegungen
Die Fraktionsvorsitzende der Sozialisten, die Spanierin Iratxe Garcia, wollte sich noch nicht für die gesamte Gruppe festlegen. Für Frau von der Leyen spreche nicht ungedingt, dass sie von der osteuropäischen Visegrad-Gruppe gestützt werde, zu der viele rechte Populisten gehören, sagte Garcia. "Wir werden die Person aber nicht beurteilen, bevor wir ihr nicht zugehört haben." Die liberale "Renew Europe"-Fraktion hält sich bislang bedeckt. Ein Sprecher verwies nur darauf, dass die Abstimmung schließlich geheim sei und jeder Abgeordnete frei entscheiden könne. Allerdings soll der Personalvorschlag zu von der Leyen mit vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron ausgehen. Der wiederum ist der starke Mann hinter der liberalen Fraktion.
Milchmädchen rechnen
In Brüssel wird nun folgende Rechnung aufgemacht: 182 Stimmen erhält von der Leyen aus der eigenen christdemokratischen Fraktion, in der selbst der ehemalige Spitzenkandidat Manfred Weber zähneknirschend für die Konkurrentin wirbt. Mindestens 120 Stimmen kommen aus der sozialdemokratischen Gruppe. Rund 100 steuern die Liberalen bei. Damit wären schon 402 Stimmen für Ursula von der Leyen beisammen. Auf die Grünen wäre sie nicht angewiesen.
Außerdem ist davon auszugehen, dass sie auch noch mindestens 30 Stimmen aus der nationalkonservativen Gruppe und von den Rechtspopulisten erhält. Ein erfahrener EU-Politiker in Brüssel sagte zu den Aussichten der deutschen Kandidatin: "Sie schafft es. Und die Bundeswehr wird sich freuen." Das ist eine Anspielung darauf, dass Verteidigungsministerin von der Leyen in den letzten Monaten kein glückliches Händchen bei der Führung der Truppe und bei mehreren Skandalen rund um Beraterverträge und schleppende Beschaffung von Ausrüstung hatte.
Was wäre, wenn...
Ursula von der Leyen hat bereits im Hauptquartier der EU-Kommission, im Berlaymont-Gebäude ein provisorisches Büro mit einigen Mitarbeitern bezogen, um ihren Wahlkampf in den Parlamentsfraktionen zu organisieren. Die Auslagen dafür erstattet die Europäische Kommission. Das ist so üblich bei EU-Spitzenpersonal in Transit. Die beiden Ämter, Verteidigungsministerin und Kandidatin, sollen so strikt getrennt werden. Forderungen aus der deutschen Politik, ihr Ministeramt bereits jetzt niederzulegen, ist die machtbewußte Ursula von der Leyen nicht nachgekommen. Im Falle einer Niederlage in Straßburg könnte sie also an den Kabinettstisch in Berlin zurückkehren.
Sollte die Kandidatin des Rates durchfallen, müssten die Staats- und Regierungschefs binnen vier Wochen einen neuen Vorschlag machen. So sehen es die europäischen Verträge vor. Das Chaos wäre perfekt, schließlich brauchten die 28 EU-Staaten drei Gipfeltreffen, um das Personalpaket für EU-Kommision, Vorsitz des Rates, Parlamentspräsident und Chefin der Europäischen Zentralbank auszubrüten.
Sollte Ursula von der Leyen gewinnen, wäre sie die erste Frau und die erste Deutsche auf dem Chefsessel der EU-Kommission. Und sie wäre ein großer Kontrast zum scheidenen Luxemburger Präsidenten Jean-Claude Juncker, der als lebensfroh, harmoniebedürftig und gesellig gilt. Der schlanken, nur 1,61 Meter großen, promovierten Ärztin von der Leyen eilt hingegen der Ruf voraus, sie sei eisern diszipliniert, esse wenig und rühre keinen Alkohol an.