Von Erinnerungskultur und Vergesslichkeit
24. Mai 2014"Ich musste als Kind beichten gehen und merkwürdigerweise konnte ich mich auch an alle meine Sünden immer gut erinnern", erzählt der deutsche Schriftsteller Martin Walser zu Beginn der Gesprächsrunde "Gibt es ein gutes Vergessen?". Sie findet im Rahmen des Philosophiefestivals PhilCologne in Köln statt. Offenbar bleibe Negatives eher im Gedächtnis als positive Erlebnisse, meint Walser. Und der mehrfach preisgekrönte Schriftsteller hat auch eine Erklärung dafür: "Die Natur will wohl, dass Dir ein negatives Erlebnis nicht noch einmal passiert, also gilt: Merke es Dir." Seine Gesprächspartnerin Aleida Assmann stimmt ihm zu: "Ereignisse, die stark von Emotionen begleitet sind, bleiben hängen – die Frage aus der Abiturprüfung etwa, die man nicht beantworten konnte." Und sie schiebt noch einen Hinweis hinterher: "Wir können uns an Erinnerungen auch verzehren."
Die Deutschen und der Holocaust
Dass der Schriftsteller Martin Walser und die Wissenschaftlerin Aleida Assmann zum Gespräch über die Frage "Gibt es ein gutes Vergessen?" eingeladen wurden, ist natürlich kein Zufall. Assmann gilt als die deutsche Expertin für Erinnerungskultur und kollektives Gedächtnis. Sie hat zahlreiche Bücher über die "langen Schatten der Vergangenheit" geschrieben, zuletzt setzte sie sich mit dem "neuen Unbehagen an der Erinnerungskultur" auseinander, das viele Deutsche offenbar empfinden.
Und Walser ist im kollektiven Gedächtnis der Deutschen nicht nur durch seine zahlreichen Romane und Schilderungen in sich zerrissener Menschen verankert, sondern auch durch eine von ihm ausgelöste Kontroverse um die deutsche Erinnerungskultur: In einer Rede im Oktober 1998, die er anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche hielt, sprach Walser unter anderem von der "unaufhörlichen Präsentation unserer Schande", gegen die sich etwas in ihm wehre und ihn veranlasse, wegschauen zu wollen. Er sprach auch von der "Instrumentalisierung des Holocaust". Worte, die viele Kritiker als Affront gegen die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen betrachteten.
Walser spricht in Köln viel über seine damaligen Worte, seine Kritiker, die Situation. Er will klarstellen: Er ist niemand, der "wegsehen" will, – und er habe nicht die Opfer der Nazi-Verbrechen, sondern die Medien kritisieren wollen. Als jemand, der früher selbst als Medienschaffender tätig gewesen sei, wisse er: "Hitler und Auschwitz bringen Quote." Und wenn er sage, er müsse auch mal wegsehen dürfen, dann denke er etwa an Fernsehbilder, die Leichenberge in ehemaligen Konzentrationslagern zeigten und so schwer zu ertragen seien, dass er auch schon mal abschalten müsse.
Ein Pakt mit den folgenden Generationen
Fest steht: Der Holocaust darf niemals vergessen werden, aus Respekt vor den Opfern und weil er sich niemals wiederholen darf. Aber wie entscheidet sich überhaupt, was und wieviel im kollektiven Gedächtnis haften bleibt? Und: Wie kann der Einzelne daran teilhaben? Aleida Assmann unterscheidet zwischen den Begriffen Erinnerung und Gedächtnis. Das Erinnern vollziehe man als einzelner Mensch. Größere Gruppen wie eine Nation bilden ein Gedächtnis, um den Teil der Vergangenheit präsent zu halten, auf den sie nicht verzichten möchten, weil er für die Gegenwart und Zukunft der jeweiligen Nation als besonders wichtig empfunden wird. Mit Büchern und anderen Medien stehen uns mit Assmanns Worten "Gedächtnisprothesen" zur Verfügung. Und doch gehen über die Generationen Informationen verloren. Die "Versicherung dafür, dass nicht alles vergessen wird", ist für Aleida Assmann die Kultur. Das kollektive Gedächtnis versteht sie als einen Pakt mit nachfolgenden Generationen, die den Nachlass der vorigen Generationen erforschen. Im Falle des Holocaust seien es insbesondere die 68er gewesen, die das Schweigen ihrer Eltern gebrochen hätten. Martin Walser widerspricht: "Das ist eine Glorifizierung der 68er Ideologie."
Erinnerungskultur ist lebendig
Einig sind sich die beiden darin, dass die Verbrechen, die in Auschwitz und anderen Konzentrations- und Vernichtungslagern begangen wurden, zu einem Kanon an Ereignissen zählen, für die die Deutschen die Entscheidung getroffen hätten, sie nicht vergessen zu wollen. Aber wie wird das Erinnern in Zukunft funktionieren? Bald schon wird es keine Zeitzeugen des Holocaust mehr geben.
Für Assmann ist der Grundrahmen für die Erinnerung mit Mahnmalen, Museen und Gedenkveranstaltungen gesetzt. "Aber es stellt sich die Frage, ob etwa Migranten diesen Erinnerungspakt mitmachen wollen." Schließlich fällt die Teilhabe am kollektiven Gedächtnis schwerer, wenn nicht die direkte Verbindung durch Eltern oder Großeltern gegeben ist. Sie plädiert dafür, die Gedenkgrenzen zwischen den europäischen Nationen in Europa - zum Beispiel Nationalsozialismus hier, Stalinismus dort - im Gespräch miteinander aufzulösen. Dies treibe - so Assmanns These in ihrem zuletzt erschienen Buch "Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur" - auch die europäische Integration voran. Erinnerungskultur lebe, sei nicht stabil. Und sie müsse sich auch verändern dürfen.
Den kleinen individuellen Vergesslichkeiten hingegen lässt sich wohl schwer vorbeugen. Das gilt auch bei dieser Diskussion. Martin Walser hat den Nachnamen der Moderatorin völlig vergessen, beim Vornamen kommt er durcheinander. Die Moderatorin nimmt's mit Humor.