dOCUMENTA (13) endet
16. September 2012Carolyn Christov-Bakargiev hatte sich in den vergangenen 100 Tagen zurückgehalten. Ganz im Gegensatz zu den Monaten vor Beginn der großen Ausstellung in Kassel. Da hatte die amerikanisch-italienische Kuratorin mit bulgarischen Wurzeln geredet und geredet und dabei immer wieder darauf verwiesen, sie habe kein Konzept für die Documenta. Als es dann im Juni losging, ließ sie die Künstler und deren Werke sprechen. Das war ein geschickter Schachzug. Die Besucher aus aller Welt konnten sich nun ein eigenes Urteil bilden. Und sie kamen in Scharen. Schon zur Halbzeit der 13. Ausgabe der Weltkunstschau in der nordhessischen Stadt meldeten die Veranstalter 400.000 Besucher - Rekord. Und einen strahlenden Rekord konnte die dOCUMENTA (13) dann auch zum Ende der Ausstellung am Sonntag (16.09.2012) vermelden: In genau 100 Tagen waren rund 860.000 Menschen in die Museen und Ausstellungsareale geströmt - deutlich mehr als bei allen Vorgängerveranstaltungen.
Das ist ohne Frage ein Erfolg. Aber eine Weltkunstschau, die ja auch deshalb ein so großes Ereignis ist, weil sie nur alle fünf Jahre stattfindet, ohne Konzept? Wie kann das gehen? Zumal der Kurator ein wichtiger Bestandteil der jeweiligen Kunstschau ist. Er/Sie bestimmt, wer eingeladen wird, welche Werke ausgestellt werden. Der Kurator verfügt über einen enormen Einfluss, wird unter Umständen mit all seinen theoretischen Einlassungen und Entscheidungen selbst zu einer Art Kunstwerk. In diesem Jahr hatte also Carolyn Christov-Bakargiev diese Rolle übernommen. Eingeladen hatte sie knapp 200 Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt. Rund 100 Werke wurden extra für diese Documenta-Ausgabe kreiert. Die dOCUMENTA (13) machte ihrem Zusatznamen "Weltkunstschau" auch aus dem Grund alle Ehre, weil parallel zur großen Schau in Kassel drei kleinere Documenta-Filialen ins Leben gerufen wurden: in Kabul, Kairo und Banff (Kanada).
Kann man nun eine so große, ausufernde Schau überhaupt noch bewerten? Eine Schau, die allen Künsten und vor allem auch Wissenschaften Raum gibt? All das Gerede der Kuratorin, dass sie über kein Konzept verfüge, wurde natürlich selbst zum Konzept. Die Künstler kamen nicht nur aus allen Erdteilen, sie vertraten auch alle denkbaren Richtungen zeitgenössischer Kunst. Zu sehen waren: Bilder und Skulpturen, Videoinstallationen und technische Werke, Konzept- und Computerkunst, Fotografie und Grafik. Altes und Neues war ausgestellt, Kunst von Lebenden und Verstorbenen. Und damit nicht genug. Musik und Film erhielten ihren Raum, Literatur und Architektur, Design und Philosophie, Tanz und Theater. Auch die Wissenschaften wurden hinzugezogen: Archäologie und Astronomie, Zoologie, Ökologie und Ökonomie, Chemie, Physik und Medizin. All das hatte auf der diesjährigen Documenta Platz - in irgendeiner Form, an irgendeinem Ort.
Der Vielfalt waren keine Grenzen gesetzt. Da wurde der Kiosk mit ökologisch angebautem Früchte- und Gemüseangebot zum Kunstwerk erklärt, ebenso die Klanginstallation auf dem zentralen Documenta-Platz, Filmreihen und diverse Diskussionsveranstaltungen. Auch eine temporäre Zeltstadt in der City, in der alle möglichen Teilnehmer gegen alle möglichen Auswüchse des grenzenlosen Wachstums protestierten, war plötzlich Teil des ganzen Spektakels.
Auch eine Documenta der Tiere
Und dann waren da auch noch die Tiere, vor allem: die Hunde. Sie wolle den Blick der Menschen erweitern, allen lebenden Kreaturen der Welt neue Perspektiven verschaffen und den Menschen die Chance einräumen, den Blickwinkel nichtmenschlicher Geschöpfe einzunehmen - so formulierte es die Kuratorin. Dafür wurde unter anderem ein Hunde-Parcours eingerichtet und ein ökologisches Landschaftskunstwerk zum 100-tägigen Lebensraum für zwei Vierbeiner mit pinkfarbigen Vorderläufen ausgerufen. Die Hunde, die sich beim Publikum großer Beliebtheit erfreuten, durften während der Documenta auf Mäusejagd gehen oder mit Plastikmüll spielen. Alles war in diesen 100 Tagen Kunst oder wurde zur Kunst erklärt.
Unter den vielen Museen und Ausstellungshallen, Naturarealen und Freilichtarenen, die über das ganze Stadtgebiet Kassels verteilt waren, befanden sich auch Häuser, in denen sich Künstler für 100 Tage eingenistet hatten, um alternative Lebensformen vorzuleben. Ökologie und Nachhaltigkeit wurden zu zentralen Begriffen, auf die Christov-Bakargiev in ihren vielen Reden und Texten immer wieder hinwies. Sie wolle einen Raum schaffen, in dem sich Kunst und Natur verbinden könnten. Auch die Wörter "Construction" und "Reconstruction" fielen in diesem Zusammenhang immer wieder. War das also das Konzept?
Carolyn Christov-Bakargiev: "Die dOCUMENTA (13) widmet sich der künstlerischen Forschung und Formen der Einbildungskraft, die Engagement, Materie, Dinge, Verkörperung und tätiges Leben in Verbindung mit Theorie untersuchen, ohne sich dieser jedoch unterzuordnen." Kunst ist alles und alles ist Kunst. Das hatten so oder ähnlich vor ihr schon andere Kunstschaffende erklärt. Man denke nur an den Documenta-Künstler Joseph Beuys. Christov-Bakargiev ist noch einen Schritt weitergegangen. Damit hat sie - für so manchen Besucher und für einige professionelle Beobachter - Denkschranken eingerissen und neue Perspektiven eröffnet.
Indem sie alles und jeden zum Mitspieler, zum Künstler und Agierenden erklärt hat, verwandelte Christov-Bakargiev die Documenta aber auch zu einem großen Parcours der Beliebigkeit. Für jeden kritischen Zeitgeist war etwas dabei. Ob Umweltschützer oder Wachstumskritiker, Kunstexperte oder philosophischer Freidenker - jeder konnte in Kassel auf seine Kosten kommen. Das kann man als große Befreiung oder als eigenständige Kunstaktion feiern - man kann es aber auch kritisieren. "Dass Christov-Bakargiev nicht über die Kriterien, die Unterschiede, das qualitative Gefälle der künstlerischen Wissensaneignung reden will, ist ein großes Pech", bemängelte eine Kritikerin. Ein anderer meinte: "Man spürt, dass möglichst für alle was dabei sein sollte, viel widersprüchliche Facetten für viele widersprüchliche Erwartungen. Also zeigt man radikal konzeptuelle Marktkritik neben folkloristischem Eso-Kitsch, den knallharten vierstündigen Autorenfilm neben der luftigen Installation mit Kräutern und Blumen."
Nun mögen die imposanten 860.000 Besucher der Kuratorin recht geben - den bisherigen Rekord hielt die Documenta vor fünf Jahren mit 750.000 Gästen. Doch das Fachpublikum aus aller Welt kommt sowieso alle fünf Jahre nach Kassel. An dem gigantischen Event Documenta kommt niemand vorbei, der in irgendeiner Form mit Kunst zu tun hat. Und ob die Zehntausende, die täglich die grünen Auen im Herzen der Stadt als Ausflugsziel besucht haben, ein Argument sind für die ausgestellte Kunst, bleibt strittig. So war es wie bei anderen gut gemeinten Kulturereignissen auch: Diejenigen, die gegen Umweltzerstörung und grenzenloses Wachstum sind, werden eifrig mit dem Kopf nicken und die Kunst goutieren. Andere nutzen die Schau zum Spazierengehen und diskutieren. Natürlich kamen auch die Anhänger "klassischer" Kunst auf ihre Kosten. Unter all den Exponaten waren selbstverständlich viele beeindruckende Werke. Das Gießkannenprinzip hat funktioniert. Doch dem Fazit und Ausblick einer großen deutschen Tageszeitung ist beizupflichten: "Von der in fünf Jahren fälligen 14. Ausgabe der Documenta wünscht man sich, dass sie wieder zu Themen zurückfindet, dass sie Maßstäbe zu setzen versucht - auf welchen Gebieten auch immer."