Von Tiananmen nach Leipzig
4. Juni 2014Nur einen Monat nach dem 4. Juni 1989 reist ein deutscher Spitzenpolitiker zur chinesischen Führung nach Peking. Sein Name lautet Günter Schabowski. Er war zu jener Zeit SED-Funktionär und Mitglied des Zentralkomitees des ostdeutschen Politbüros, des Machtzentrums der SED. Im Gepäck hatte er zwei Aufträge von Staats- und Parteichef Erich Honecker. Er sollte der chinesischen Regierung die Gratulation Honeckers zur "erfolgreichen Niederschlagung der konterrevolutionären Bewegung" überbringen. Brudergrüße von Hardliner zu Hardliner gewissermaßen.
Zudem sollte Schabowski "herauskriegen, was sich wirklich auf dem Platz des Himmlischen Friedens abgespielt hat." Nicht, dass man Peking nicht zutrauen würde, hart durchzugreifen. Doch im Ost-Berliner Politbüro vertraute man den westlichen Medien nicht und hielt sie für Propagandaapparate. Deshalb sollte sich Schabowski ein eigenes Bild machen. Schabowski, der Sohn eines Klempners, der nach seinem Journalismus-Diplom immer höher innerhalb der SED-Ränge aufgestiegen war, war nicht der einzige, der Informationen aus erster Hand suchte.
Auch US-Präsident George Bush schickte heimlich einen Gesandten, Brent Scowcroft. Allerdings war dessen Auftrag anders gelagert. Er sollte Peking versichern, dass die USA zwar nach außen Empörung zeigen würden, hinter den Kulissen jedoch an einer möglichst raschen Normalisierung der Beziehungen interessiert seien. Die Botschaft hatte einen einfachen Grund: Anfang der siebziger Jahre hatten sich Mao und der damalige US-Präsident Richard Nixon gegen die Sowjetunion verbündet. Washington wollte an dem Pakt festhalten, vor allem, nachdem Mitte Mai der sowjetische Staats- und Parteichef Michael Gorbatschow nach Peking gereist war, als erstes russisches Staatsoberhaupt seit dem Bruch mit China 1959. Die Amerikaner wollten auf Nummer sicher gehen, obwohl der Besuch Gorbatschows für Peking nicht angenehm verlaufen war.
Gorbatschow: Führung hat Kontrolle verloren
Wegen der Demonstrationen musste Gorbatschow die Große Halle des Volkes durch die Hintertür betreten. Statt Deng Xiaoping zu unterstützten, trat Gorbatschow der chinesischen Führung ins Kreuz und gab sich geradezu westlich weltmännisch, als er am Ende seiner Reise der russischen Nachrichtenagentur Tass diktierte, die chinesische Führung habe die Kontrolle verloren. Ein großer Gesichtsverlust für Deng, der sicherlich auch zu der Entscheidung beigetragen hat, die Demonstrationen militärisch zu beenden.
Erich Honecker, sich schon seit Jahren über Gorbatschows Reformen ärgerte, die ihn wie einen Trotzkopf aussehen ließen, wollte nun durch die Entsendung Schabowskis nach Peking einen eigenen Akzent setzen. Schabowski traf mit dem neu eingesetzten Staats- und Parteichef Jiang Zemin zusammen. Der vorherige Parteichef von Shanghai hatte Zhao Ziyang abgelöst, der sich auf die Seite der Studenten geschlagen hatte.
Eingeständnis von Schwäche
Jiang erklärte dem deutschen Genossen, dass das Militär zwar den Tiananmen-Platz friedlich geräumt habe. Die Entwicklung sei jedoch in den angrenzenden Straßen außer Kontrolle geraten. Als Demonstranten und Soldaten aufeinander losgegangen seien, seien 400 Menschen umgekommen. Schabowski erstaunte, dass Jiang im Grunde einräumte, dass es zu dem Blutvergießen gekommen war, weil die Führung offensichtlich die Kontrolle über die Situation verloren hatte. "Das war ein erstaunliches Eingeständnis von Schwäche", erinnerte sich Schabowski später.
Er habe genau wahrgenommen, wie sehr die chinesischen Politiker, die er traf, unter den Vorwürfen der internationalen Gemeinschaft gelitten hätten, nachdem sie zuvor ein Jahrzehnt lang als vorbildliche Reformer gefeiert worden seien. Der Schock über das Blutvergießen des eigenen Volkes habe bei Jiang so tief gesessen, so die Erinnerung Schabowskis, dass er, Schabowski, darauf verzichtet habe, die ihm von Honecker aufgetragenen Gratulationswünsche zur "erfolgreichen Niederschlagung der konterrevolutionären Bewegung" zu übermitteln. Denn nicht einmal Jiang habe von konterrevolutionären Kräften, sondern nur von verwirrten Studenten gesprochen. Durch die Ausführungen Jiangs sah der ost-deutsche Besucher also weder die im Westen kolportierten Berichte von einem "Massaker" auf dem Platz des Himmlischen Friedens bestätigt, noch die erwartete Haltung Pekings, dass es bei der Wiederherstellung der Ordnung "leider" das ein oder andere unvermeidliche Opfer gegeben habe.
Keine "Pekinger Lösung" für Leipzig
Die Tonlage von Jiang hatte Folgen für den deutsch-deutschen Vereinigungsprozess, die man nicht unterschätzen sollte. Denn nur fünf Monate später stand das SED-Politbüro vor der Entscheidung, ob es Panzer gegen Demonstranten in Leipzig (s. Artikelbild) in Stellung bringen sollte. Mit dem damaligen Staats- und Parteichef Egon Krenz war Schabowski sich einig, so sagt er im Rückblick, "dass eine Lehre aus dem Pekinger Drama nur sein konnte, niemals mit militärischer Gewalt gegen demonstrierende Bürger vorzugehen."
Die kleinlaute Tonlage der chinesischen Führung wurde ein Jahr später noch von dritter Seite bestätigt. 1990 später traf Altbundeskanzler Helmut Schmidt als erster deutscher Politiker nach 1989 auf Deng Xiaoping. Auch Deng sprach von verwirrten Studenten und er suchte die Schuld in der Partei, die nicht einig geblieben sei. Auch er machte gegenüber Schmidt nicht den Eindruck, als ob er diesen Weg noch einmal gehen wolle. Seine größte Sorge war, wie man China wieder auf den Weg der internationalen Öffnung bringen könnte. Und tatsächlich: 1989 blieb ein Ausrutscher in der neuen chinesischen Geschichte.
Realistischer und fairer Blick auf den 4. Juni ist möglich
Warum ist diese Episode so wichtig? Sie wirft ein realistischeres Bild auf den Juni 1989. Niemandem ist geholfen, wenn im Westen die Ereignisse einseitig überzeichnet werden. Das ist ebenso verwerflich wie das Schweigen der chinesischen Regierung zu 1989. Beides verhindert Konsens. Zum Beispiel den Konsens, dass, selbst wenn man sich als Partei nicht dazu äußern will, es falsch und kurzsichtig ist, diejenigen einzusperren, die darüber reden wollen. Diesen Konsens erreicht man eher, wenn die Staatsicherheit nicht mehr behaupten kann, dass sie verhindern muss, dass die westlichen Überzeichnungen die eigene Bevölkerung in Unruhe versetzen können.
Wir haben im Westen über Jahrhunderte ein Rechts- und ein Gerechtigkeitsverständnis entwickelt, das auf Beweispflicht beruht, das zwischen Fahrlässigkeit und Vorsatz entscheidet, zwischen Einzel- und Serientäter und in dem es vor allem keine Sippenhaft gibt. Daran sollten wir uns auch halten, wenn wir empört sind. Es geht dabei nicht um Relativierung der Ereignisse, sondern um Fairness auch gegenüber denjenigen, die sich unfair verhalten haben und heute noch verhalten. Denn erst diese Fairness gibt den eigenen Werten Kraft.
DW-Kolumnist Frank Sieren lebt seit 20 Jahren in Peking