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Von wilden Mäusen und toten Schweinen

Jochen Kürten
12. Februar 2017

Tiere sind ein wichtiges Sujet dieser 67. Berlinale. Ganz konkret, aber auch als Metapher. Der polnische Beitrag "Pokot" geht das Thema direkt an. Josef Hader aus Österreich beweist in "Wilde Maus" schwarzen Humor.

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Berlinale 2017 - Filmstill Pokot | Spoor
Frau und Schwein im Schnee: der polnische Film "Pokot"Bild: Robert Paêka

Eine ältere Frau hockt im Schnee. Vor ihr ein totes Wildschwein, frisch erlegt von Jägern. Die Frau weint, streichelt zärtlich den Kadaver. Duszejko, eine pensionierte Ingenieurin, lebt in einer bergigen Region Polens an der Grenze zu Tschechien in einem Waldhof. Sie liebt Tiere über alles und beklagt sich deshalb immer wieder in der Nachbarschaft, beim Dorfpolizisten und sogar beim Pfarrer über das barbarische Treiben der Jäger und Wilderer.

Die Frau steht im polnischen Wettbewerbsbeitrag "Pokot" von Regisseurin Agnieszka Holland auf der einen Seite der Front. Mit ihr die Tiere, Kinder, ein paar Frauen, ein paar Männer, die aber allesamt Außenseiter der Gesellschaft sind. Auf der anderen Seite befinden sich die Jäger, die Polizei, die Kirche und staatliche Institutionen in einer patriarchalischen Gesellschaft. Es ist schnell klar, wem die Sympathien der Regisseurin gehören.

Märchenhaftes und Mystisches: "Pokot" aus Polen

Doch Agnieszka Holland ist eine routinierte Filmemacherin, die schon lange im Geschäft ist und weiß, dass sie es sich nicht zu einfach machen darf mit der Aufteilung in Gut und Böse. Darum hat sie ein paar Fallstricke in ihren Film eingebaut, Drehbuch-Überraschungen und auch ein wenig Humor, märchenhafte Elemente und ein bisschen Esoterik. Das rettet "Pokot" vor einer allzu offensichtlichen Schwarz-Weiß-Dramaturgie.

Berlinale 2017 - Filmstill Pokot | Spoor
Frauen unter sich - in "Pokot" tobt auch der GeschlechterkampfBild: Robert Paêka

Nach dem ungarischen Film "On Body and Soul", der auf der Berlinale vor zwei Tagen vorgestellt wurde, ist dies bereits der zweite Wettbewerbsbeitrag aus einem Land, das man früher zum Ostblock zählte. Das Kino Osteuropas auch für den Westen zu erschließen, das war für ein paar Jahrzehnte eine der Hauptaufgaben der Berlinale. Bis zum Fall der Mauer 1989 war das sogar die Seele des Festivals. In den letzten Jahren aber ist dieses Konzept arg vernachlässigt worden.

2017 sind neben Ungarn und Polen auch noch Rumänien (Calin Peter Netzers Film "Ana, mon amour" läuft zum Ende der Berlinale) vertreten im Rennen um den Goldenen Bären. Man könnte also von einem Comeback Osteuropas bei der Berlinale sprechen. Erstaunlich ist, dass sich nach den ersten beiden Filmen aus der Region verblüffende Parallelen ergeben.

Metaphern für gesellschaftliche Umbrüche

Auch "On Body and Soul" begann mit einem Blick auf winterliche Landschaften und Hirsche im Schnee. Genau wie "Pokot" entwickelte die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi eine Geschichte voller Rätsel und Anspielungen, Irrwegen und Metaphern. Tiere spielen dabei immer eine wichtige Rolle. Schaut man nun auf die Herkunftsländer beider Werke, so kann an zu dem nicht allzu gewagten Schluss kommen: Hier bäumen sich die Schwachen und Benachteiligten einer Gesellschaft gegen nationalistische und althergebrachte gesellschaftliche und politische Tendenzen und Rituale auf.

Berlinale 2017 - Filmstill Pokot | Spoor
In ihrer Freizeit gibt Duszejko Englisch-UnterrichtBild: Robert Paêka

Besonders Ungarn und Polen stehen seit einiger Zeit für einen Umbruch in (Ost-)Europa. So ist es vielleicht kein Zufall, dass beide Filme von Frauen gedreht wurden; dass Außenseiter Sympathieträger sind; dass die an den Schalthebeln der Macht sitzenden Männer schlecht weggekommen; und dass eben Tiere symbolisch für Ohnmacht und Verletzlichkeit stehen. In "On Body and Soul", der in einem Schlachthof spielt, werden sie getötet, zerstückelt und zerlegt. In "Pokot" gejagt, gequält und grausam gefangen gehalten.

Festivals bringen Filme zusammen

Vielleicht ist es noch zu früh, von einem Trend zu sprechen. Möglicherweise schwingt aber aber in solchen Filmen aus Polen und Ungarn eine neue Ablehnung des nationalen Klimas mit. Dafür sind Filmfestivals schließlich auch da: um Zusammenhänge herzustellen.

Regisseurin Ildikó Enyedi
Die ungarische Regisseurin Ildikó EnyediBild: I. Enyedi

Und natürlich hat die Berlinale auch die Aufgabe, scheinbar Gegensätzliches zusammenzubringen und miteinander zu verknüpfen. "Wilde Maus" heißt das Regiedebüt des österreichischen Kabarettisten und Schauspielers Josef Hader, der hier zwischen den Filmen aus Ungarn und Polen gezeigt wurde. "Wilde Maus" ist der Name einer etwas heruntergekommenen Achterbahn im Wiener Prater, auf deren Gelände sich der Musikjournalist Georg, gespielt von Hader selbst, zurückzieht.

Vom Niedergang des Feuilletons

Georg, zuständig für das Ressort Klassische Musik, ist soeben entlassen worden bei seiner Zeitung. Er habe noch einen "Alt-Vertrag", sein Gehalt sei zu hoch und "Jetzt müssten mal jüngere Leute ran", schmettert ihm sein Chef entgegen. Dass die junge Kollegin, die für Georg von nun an die Musikkritiken schreibt, eigentlich keine Ahnung von der Materie hat, stört bei der Zeitung niemanden. 

67. Berlinale 2017 | Wilde Maus
Nicht nur tote Tiere im Schnee auf der Berlinale, auch ein nackter Mann: Josef Hader in "Wilde Maus"Bild: WEGA Film

Hader entwickelt aus dieser Situation eine Tragikomödie mit viel schwarzem Humor und lakonischem Witz. Der Schauspieler, der jüngst noch als Stefan Zweig in "Vor der Morgenröte" glänzte, ist auch in seinem eigenen Filmdebüt als Darsteller großartig. Die Geschichte, die "Wilde Maus" anfangs so konzentriert erzählt, zerfasert allerdings im Laufe des Films, die Charaktere erreichen kaum Tiefe, die Spitzen gegen den Wandel in der Medienlandschaft werden durch ein paar Albernheiten um ihre Wirkung gebracht.

Im Berlinale-Wettbewerb darf auch gelacht werden

Und doch ist "Wilde Maus" ein vergnüglicher Film. Auch das muss es ja geben bei einem Wettbewerb eines großen Filmfestivals. Neben all den verrätselten Kunstfilmen, den gut gemachten oder nur gut gemeinten Polit-Dramen und Gesellschaftsstücken. Tote Tiere im Schnee kann nämlich der Zuschauer auch nur begrenzt ertragen. Da tut es gut, wenn auch mal ein nackter Mensch im Schnee sitzt, der sich betrinkt und über den man lachen kann.