"Vorsicht beim Begriff Genozid in Myanmar"
30. November 2016Seit Jahrzehnten gibt es im Rakhine-Staat erhebliche Spannungen zwischen Buddhisten und Muslimen. Der Beginn der jüngsten Unruhen datiert zurück auf den 9. Oktober 2016. Damals hatten militante Muslime mehrere Grenzposten an der Grenze zu Bangladesch angegriffen und neun Polizisten aus Myanmar getötet. Seither gehen die Sicherheitskräfte Myanmars nach eigenen Angaben verstärkt gegen Terroristen vor. Die Rohingya wiederum werfen Militär und Polizei massive Gewalt, Folter und Vergewaltigung vor. Etwa 30.000 Rohingya sollen nach Bangladesch geflohen sein.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) und John McKissick, ein Vertreter des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) in Bangladesch, haben sich eindringlich geäußert. HRW veröffentlichte Satellitenbilder, die belegen sollen, dass das Militär systematisch Häuser von Rohingya niederbrennt. In einem Interview mit der BBC sprach der Mitarbeiter von UNHCR von ethnischen Säuberungen.
Ein Sprecher der Regierung Myanmars wies die Anschuldigungen zurück. Aung San Suu Kyi hat sich bisher nur sehr zurückhaltend zu dem Konflikt geäußert, aber im August 2016 den ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan als Vorsitzenden der Beratungskommission für den Rakhine-Staat engagiert. Dieser ist zurzeit in Myanmar und reiste Ende der Woche in die Region.
Die Krise zieht derweil immer weitere Kreise. Am Freitag (25.11.2016) demonstrierten etwa 2000 Menschen in Indonesiens Hauptstadt Jakarta vor der Botschaft Myanmars. Aung San Suu Kyi verschob ihre geplante Reise nach Indonesien mit Hinweis auf die andauernde Krise. Malaysias Premierminister Najib Razak will in den nächsten Tagen an einer Demonstration in Kuala Lumpur teilnehmen.
Der Historiker Jacques Leider hat die Geschichte des Rakhine-Staates seit vielen Jahren erforscht und war 2015 in der Region für die UN tätig.
Deutsche Welle: Was können wir über die Lage im Rakhine-Staat überhaupt mit Sicherheit sagen?
Jacques Leider: Die Tatsache, dass Journalisten zurzeit keinen Zugang zur Region haben, ist für die Berichterstattung natürlich ein großes Problem und die aktuellen Geschehnisse können wir im Detail nicht genau einschätzen. Allerdings folgen die Ereignisse im Rakhine-Staat seit vielen Jahren immer wieder einem bestimmten Muster: Es gibt einen Gewaltausbruch. Dann reagiert das Militär scheinbar überrumpelt von den Ereignissen und mit übertriebener Gewalt. Das führt dann zu Panik und Gerüchte schießen wie Pilze aus dem Boden. In der Folge ergreifen die Muslime die Flucht, zum Teil ohne genau zu wissen, was eigentlich vor sich geht.
In der Regel versuchen sie nach Norden über die Grenze nach Bangladesch zu kommen. Betroffen sind momentan vor allem die Grenzbezirke Maungdaw und Buthidaung, die überwiegend von Muslimen bewohnt werden.
Die UN haben am Dienstag gesagt, dass es im Rakhine-Staat wahrscheinlich zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit kommt. Ein Mitarbeiter des UN-Flüchtlingshilfswerks aus Bangladesch hat einige Tage zuvor den Begriff der ethnischen Säuberung benutzt. Auch von einem Genozid war in den letzten Jahren immer wieder die Rede. Was können Sie dazu sagen?
Die amerikanische Regierung, die man in diesem Zusammenhang auch zitieren kann, hat die Frage, ob es sich um einen Genozid handelt, negativ beschieden. Meiner Ansicht nach handelt es sich ebenfalls nicht um einen Genozid, in dem Sinne, dass es einen Plan gibt, das Volk der Rohingya systematisch auszulöschen.
Der Begriff des "langsamen Genozids", der 2013 in die Debatte eingeführt wurde, basiert auf Vorstellungen, die relativ weit von der unter Historikern vorherrschenden Auffassung eines Völkermords entfernt sind.
Ich wäre mit solchen Begriffen sehr vorsichtig. Sie führen einfach nicht in die richtige Richtung, wenn man den Zwist zwischen den Völkerschaften und der Regierung bzw. dem Militär überwinden will. Die Vorwürfe bewirken das Gegenteil: Sie heizen den Konflikt immer weiter an und verbessern nicht die Chance auf ethnischen Frieden.
Wie würden Sie das, was im Rakhine-Staat passiert, bezeichnen?
Ursache des aktuellen militärischen Vorgehens war ein koordinierter Überfall von mehreren Polizeiposten durch eine bisher unbekannte militante Rohingyagruppe, bei dem neun Polizisten getötet wurden. Diese Tat mag einen islamistischen Hintergrund haben, aber dass die "Untersuchung" der Geschehnisse in kürzester Zeit zu einem weiträumigen Einsatz der Armee führte, zeigt, dass hier der Einsatz von staatlicher Gewalt zur Verfolgung und Einschüchterung Vorrang hat vor kriminalistischer Arbeit und besonnener politischer Planung. Solch militärischer Aktionismus signalisiert eher Schwäche und Koordinationsmängel als Kompetenz.
Seit einigen Monaten gibt es eine zivile Regierung unter der Führung von Aung San Suu Kyi. Diese wird insbesondere von westlichen NGOs massiv kritisiert. Welche Möglichkeiten hat die Regierung, um etwas an der Lage zu ändern?
Die gravierenden Probleme in der Region bestehen seit Jahrzehnten. Es war deswegen nicht zu erwarten, dass Aung San Suu Kyi diese schnell würde lösen können. Es ist die Armee, die diese Grenzregion ununterbrochen seit den frühen 50er Jahren beherrscht. Ihr vornehmliches Ziel war allein innere Sicherheit und Kontrolle der Bevölkerung, nicht ethnischer Ausgleich. Die Kontrolle gelang dadurch, dass der kulturelle und politische Graben zwischen Buddhisten und Muslimen erhalten wurde. Politische Forderungen wurden unterdrückt und Spannungen implizit gefördert. Armut und Unterentwicklung werden erst heute als ursächliche Probleme erkannt. Die derzeitige Regierung steht ganz am Anfang einer Neuorientierung, die zumindest teilweise schon von Präsident Thein Sein angedacht wurde.
Der Vorwurf lautet, dass die neue Regierung zu wenig oder gar nichts unternimmt und die Sicherheitskräfte einfach gewähren lässt. Teilen Sie die Auffassung, dass sich die NLD der Probleme nicht annimmt?
Die Regierung ist ebenso wie Vorgängerregierung von den Problemen im Rakhine-Staat überfordert. Das hängt damit zusammen, dass es innerhalb des Landes keine offene, konstruktive Diskussion über die Probleme in der Region gibt. Es fehlt an kritischen Stimmen, die versuchen, das buddhistisch-nationalistische Narrativ zu durchbrechen. Die Öffentlichkeit ist in einem simplen Schwarz-Weiß-Denken gefangen, und zwar sowohl im Westen als auch in Myanmar. Es ist allgemein bekannt, dass die Öffentlichkeit in Myanmar eine sehr negative Einstellung gegenüber den Rohingya hat, die sich mit Fremden- und allgemeiner Muslimfeindlichkeit vermischt. Umgekehrt gelten im Westen die Rohingya allzu oft nur als unschuldige Opfer außerhalb jedes historischen Zusammenhangs.
Müsste oder könnte Aung San Suu Kyi nicht gerade diese Diskussion anstoßen, insbesondere da sie bei der Bevölkerung ein so hohes Ansehen genießt?
Im Prinzip ist die Kritik berechtigt, allerdings würde sie das innenpolitisch zweifellos in eine Sackgasse führen, denn die Gesellschaft ist noch nicht bereit für eine derartige Diskussion. Sie hat kürzlich gesagt, dass es in Myanmar mehr als 100 ethnische Gruppen und eine Vielzahl von Problemen gibt. So gibt es etwa auch eine riesige Gruppe von Binnenflüchtlingen der Kachin, die nur sehr selten in den internationalen Medien auftauchen. Wenn Aung San Suu Kyi sich nun ausführlich dem Konflikt im Rakhine-Staat widmet, dann werden andere ethnische Gruppen mit vergleichbaren Problemen im Lande aufbegehren.
Wie kommt es, dass die anderen Konflikte im Westen so viel weniger wahrgenommen werden?
Die Rohingya machen einfach eine gute Pressearbeit. Es gibt kaum einen Teil des Landes, der so wenig bereist wird, aber aus dem jeder Vorfall in jedem Dorf über das Internet sofort verbreitet wird. Das deutet darauf hin, dass das Netzwerk der Rohingya gut funktioniert.
Die muslimische Gemeinschaft insbesondere im Nahen Osten hat die Lage der Rohingya, von denen übrigens mehr als ein Drittel außerhalb Myanmars etwa in Saudi-Arabien oder Bangladesch leben, seit 2012 verstärkt wahrgenommen. Das hat zu einer großen Solidarität mit den Rohingya im Nahen Osten, aber auch in Malaysia und Indonesien geführt. Das ist im Grunde verständlich.
Das Problem ist, dass die internationale Presse viele Informationen aus dem Netzwerk eins zu eins übernommen hat. Unberücksichtigt blieben dabei oft die Ansichten der buddhistischen Rakhine und ihrer Angst vor Überfremdung. Das wurde in Myanmar als Parteinahme interpretiert. Außerdem war die Berichterstattung stark vereinfachend, wonach die Rohingyas von jeher die Opfer von Unterdrückung waren.
Was wäre aus ihrer Sicht notwendig, um die Lage zu entschärfen?
Natürlich muss man weiter auf die gravierenden Menschenrechtsverletzungen hinweisen. Aber man muss sich klarmachen, dass die Verantwortung für die Lage im Rakhine-Staat nicht einseitig zu verorten ist. Es ist auch unglücklich, dass Journalisten oft nur extreme Positionen, wie sich das etwa am Begriff des Genozids zeigt, aufgreifen. Die moderaten Buddhisten in der Region, so mein Eindruck in Gesprächen, wagen sich gar nicht mehr aus der Deckung. Stellen Sie sich vor, die Deutschen würde in der internationalen Presse so dargestellt, als ob sie alle die AfD und Pegida unterstützen würden. So stellt sich das für viele Buddhisten in der Region dar. Sie haben den Eindruck, auf bestimmte politische Positionen festgelegt zu werden und dass ihren Bedürfnissen und Ängsten gar kein Gehör geschenkt wird.
Vielleicht gelingt es Kofi Annan und seiner Kommission in die Diskussion im Land neue Impulse zu geben, zumal in ihr auch Muslime, wenn auch keine Rohingya, vertreten sind. Doch schnelle Lösungen wird es nicht geben. Wir müssen darauf vorbereitet sein, dass es viele Jahre dauert, bevor sich die allgemeine Lage verbessert.
Jacques Leider ist Historiker und befasst sich seit vielen Jahren mit der Geschichte des Rakhine-Staates.
Das Interview führte Rodion Ebbighausen.