Vorteil für Kiew
20. März 2015Kurz vor der Wiederaufnahme der Brüsseler Gas-Gespräche poltert einer der reichsten Oligarchen und starker Mann im Konflikt im Osten der Ukraine durch die sozialen Netzwerke: Ein Video auf youtube zeigt seit Donnerstag Abend den sonst medienscheuen Igor Kolomoijski wie er offenbar in Kiew nach einer Aufsichtsratssitzung der ukrainischen Pipelinefirma Ukrtransnafta Journalisten anblafft: er habe gerade die Interessen der Ukraine verteidigt und werde in Kürze Präsident Poroschenko unterrichten. Die ukrainische Nachrichtenagentur Interfax-Ukraine kabelt kurz darauf, dass der Aufsichtsrat das Management abgesetzt habe. Die russische Propagandamaschine wiederum erklärt im Internet, Kolomoijski wäre bei dem Treffen mit bewaffneten Bodyguards aufgetaucht. Letzteres lässt sich aus dem Online-Video nicht ersehen und eine Regierungs-Stellungnahme ist, wie meist in Kiew, auf die Schnelle nicht zu erhalten. Bei dem Treffen mit dabei soll auch der ukrainische Energieminister Volodymyr Demchyshyn gewesen sein. Heute wird er in Brüssel bei den Ukraine-Russland-Gesprächen zum Gaskonflikt EU-Energiekommissar Maroš Šefčovič erklären können, was tatsächlich los war Donnerstag abend in Kiew.
Zeitenwende im Gas-Streit
Klar ist: In dem jahrelangen Streit um die Durchleitung russischen Gases durch die Ukraine ist soviel Bewegung wie lange nicht mehr. Vor allem wegen der äußeren Faktoren. Das Energiewirtschaftliche Institut der Universität Köln berichtet diese Woche: "Die EU wäre gegen vorübergehende Gaslieferunterbrechungen durch den Ausfall der Ukraine als Transitland deutlich besser gewappnet als noch im Krisenjahr 2009". Die neueste Studie der Kölner kommt zu dem Schluss, dass die aktuelle Gasnachfrage weit hinter den Erwartungen zurück bleibe. Und das scheint nicht nur für die EU zu gelten, sondern auch für das Krisenland Ukraine.
Einsparungen in Kiew
Ein Tag Anfang Dezember in Kiew: Die Temperatur fällt unter Null, viele in der ukrainischen Hauptstadt bangen, ob der Konflikt mit Russland sie frieren lassen wird. Über den Herbst hinweg hatten die Hauptstädter Elektroboiler gekauft, um im Notfall – wenn es kein Gas mehr gibt – wenigstens warmes Wasser zu haben. Da sagt eine Mieterin aus der Kiewer Innenstadt: "Endlich ist es vorbei mit den überheizten Wohnungen hier." Denn die ukrainische Regierung hatte, zentral und per Anweisung verfügt, dass die mit zentraler Fernwärme beheizten Wohnungen nicht mehr ganz so heiß versorgt werden sollten. Die Innenraumtemperatur wurde bis dahin in Kiew über zu öffnende Fenster reguliert. So wie bei den ostmitteleuropäischen Nachbarstaaten wie Polen im einst sowjetischen Machtbereich bis zum Fall der Berliner Mauer – Ost-Berliner Plattenbauten inklusive. Kiew, so scheint es, war in jenem Moment im Dezember im Nachwende-Europa angekommen. In den Wochen danach erlebt das Land den wärmsten Winter seit langem.
Energie-Notstand bleibt aus
Der auch von der Brüsseler EU-Kommission befürchtete Energie-Notstand in der Ukraine ist diesen Winter ausgeblieben. Nur im vergangenen Dezember gab es noch einen Schreckmoment, als selbst in Kiews Innenstadt an ein paar wenigen Tagen zwischendurch der Strom ausfiel. Wohl weil ein paar Sauna-Freunde in ihren Wohnzimmern Elektroheizer angestellt hatten, während das größte Atomkraftwerk Europas im ukrainischen Saporischje mit technischen Problemen zu kämpfen hatte. Die Kiewer Stadtverwaltung hatte kurz darauf die opulente nächtliche Beleuchtung des sowjetischen Zuckerbäcker-Rathauses abgestellt. "Wir haben ein Energiesparproblem", sagte Bürgermeister Vitali Klitschko Ende Januar. "Darin, Energie zu sparen, liegen für uns enorme Chancen." Zu Jahresbeginn wagte die Kiewer Regierung zudem einen kühnen Schritt: Die staatlich kontrollierten Gaspreise für private Haushalte sollen verdreifacht werden – wirksam wird diese Entscheidung aber erst zur nächsten Heizperiode im Oktober
Industrie-Nachfrage bricht ein
Gleichzeitig bricht die Energie-Nachfrage in der Ukraine aus ganz anderem Grund ein. Die deutsch-ukrainische Handelskammer veröffentlichte in dieser Woche die Vorjahreszahlen ihrer Mitgliedsunternehmen. Es gibt kaum eine Branche, deren Produktion nicht in den Keller rauschte. Und das in erster Linie wegen des Krieges zwischen den prorussischen Rebellen im Osten des Landes und der ukrainischen Armee. Weniger Produktion bedeutet eben auch weniger Energiebedarf.
Die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen verringert sich aber auch aus einem anderen Grund: Mittlerweile sind laut Energiewirtschaftlichem Institut Köln auch 40 Prozent der wichtigen Leitungsstränge so ausgelegt, dass die Ukraine Gas aus Richtung Westen beziehen kann.