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Wachwechsel in Straßburg

Daphne Grathwohl1. November 2012

Dean Spielmann wird Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er muss Reformen forcieren, für Akzeptanz sorgen - und die Flut von Fällen bewältigen, die den Gerichtshof überschwemmen.

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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg (Foto: dpa)
Europäischer Gerichtshof für MenschenrechteBild: picture-alliance/dpa

Dean Spielmann ist fokussiert auf seine Arbeit, nicht auf seine öffentlichkeitswirksame Außendarstellung. Vor seinem Amtsantritt als Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) am 1. November 2012 gab er keine Interviews. Fokussiert ist auch der Lebenslauf des Luxemburgers: Mit 27 Jahren Rechtsanwalt in Luxemburg, bald darauf Dozent, mit 41 Jahren dann Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Schon sein Vater Alphonse Spielmann war in den 1980er Jahren Richter in Straßburg. Mit gerade 50 Jahren wird Dean Spielmann nun Präsident des EGMR.

Seine beiden Vorgänger, Jean-Paul Costa und Sir Nicolas Bratza, waren bei Amtsantritt 66 Jahre alt also wesentlich älter - und vielleicht erfahrener? Andreas Zimmermann ist Europarechtler an der Universität Potsdam. Er ist von der deutschen Bundesregierung zum ad-hoc-Richter am EGMR benannt worden, könnte also für die derzeit amtierende deutsche Richterin Angelika Nußberger einspringen. Er sagt über Spielmann und seine Qualifiktionen: "Er ist schon Richter gewesen, er war auch Vize-Präsident, er kennt die Praxis des Gerichtshofs. Ich glaube, er wird eine gute Rolle spielen. Er kann durchaus eine neue Dynamik bringen."

Dean Spielmann, der neue Präsident des EGMR (Foto: EGMR)
Neuer Präsident des EGMR: Dean SpielmannBild: EGMR Straßburg

Das Alter sei nicht immer entscheidend, schließlich sei am Gericht auch eine Altersgrenze eingeführt worden, weil manche Richter fast zu alt waren, erklärt Zimmermann vorsichtig, aber durchaus mit Augenzwinkern.

Die üblichen Verdächtigen sorgen für Fallstau

Der Gerichtshof wird jährlich von zigtausenden Beschwerden überschwemmt. Allein 2011 waren es knapp 65.000. Jeder Bürger der Staaten des Europarates kann in Straßburg Beschwerde einlegen, wenn er glaubt, durch eine staatliche Maßnahme in seinen Rechten aus der Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt worden zu sein. Die 47 Richter - aus jedem Staat des Europarats einer - können die Beschwerden seit Jahren kaum abarbeiten. Rund 140.000 Fälle waren im September 2012 am Gericht anhängig.

Julia Tymoschenko (M.), die frühere Premierminsterin der Ukraine, mit ihrer Familie (Foto: dpa)
Auch der Fall Timoschenko wird in Straßburg verhandeltBild: picture-alliance/dpa

Es sind immer wieder dieselben Staaten für diesen Fallstau verantwortlich: Russland, die Türkei, Italien und Rumänien. Also wurden Reformen nötig: Die wichtigste war Mitte 2010 das Inkrafttreten des 14. Zusatzprotokolls zur EMRK. Nun können Einzelrichter schnell unzulässige Beschwerden ablehnen, wenn dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil entstanden ist.

Reformen noch nicht ausreichend

Das 14. Zusatzprotokoll sei ein positiver Schritt, sagt Europarechtler Andreas Zimmermann, aber wegen der schieren Anzahl der Beschwerden und Klagen sei es noch nicht ausreichend. Er berichtet von weiteren, derzeit diskutierten Reformvorschlägen: ein filterndes Annahmeverfahren oder eine Kostenpauschale für offensichtlich aussichtslose Fälle zum Beispiel. Im Gespräch sind auch mehr Personal und finanzielle Mittel.

Prof. Andreas Zimmermann, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Staatsrecht, Europa- und Völkerrecht sowie Europäisches Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Potsdam (Foto: Uni Potsdam)
Sieht mehr Reformbedarf: Andreas ZimmermannBild: Universität Potsdam

Benjamin Ward ist stellvertretender Direktor der Europa- und Zentralasien-Abteilung von Human Rights Watch. Er sieht neben dem Fallstau eine weitere Herausforderung für Spielmann: "Ein paar wichtige Europarats-Staaten glauben, das Gericht sei zu mächtig geworden und müsse zurückgehalten werden. Die Regierungen könnten im Zuge dessen versuchen, die Arbeit des Gerichts zu erschweren und den Menschen den Weg zum Gericht zu versperren, deren Menschenrechte verletzt wurden."

Aktiver politischer Einfluss?

So sei unter anderem der britischen Regierung der Einfluss des Gerichts zu groß, erklärt Ward: "Sie hat unter der letzten Präsidentschaft versucht, die Befugnisse des Gerichts wieder einzuschränken." Aber auch andere Europarats-Staaten wie Russland oder die Türkei fühlten sich von den Urteilen oft falsch behandelt, so der Menschenrechtsexperte.

Andreas Zimmermann bewertet die Akzeptanz des Gerichts durch die Mitgliedsstaaten nicht so negativ. Trotzdem müssten die Mitgliedsstaaten ihre nationalen Rechtsordnungen der Menschenrechts-Konvention weiter anpassen, glaubt er. In Deutschland könne man nun zum Beispiel Schadensersatz wegen zu langer Verfahrensdauer einklagen, müsse also deswegen nicht nach Straßburg ziehen. Wenn alle Staaten das so handhaben würden, könne man strukturelle Probleme beseitigen, sagt Zimmermann.

Manchmal die einzige Instanz

Jedenfalls dürfe Straßburg nicht zu einem Gericht hauptsächlich für Beschwerden gegen Russland oder die Türkei werden, sagt Benjamin Ward von Human Rights Watch. Nur wenn alle Staaten des Europarats sich gleichermaßen vor dem Gericht für ihre Menschenrechtspolitik verantworten müssten, könne der Gerichtshof in Straßburg effizient arbeiten: "Die Mitgliedsstaaten müssen alle den politischen Willen zeigen und anerkennen, dass das Gericht ist ein unglaublich wichtiges Instrument zum Schutz der Menschenrechte in Europa ist - und in vielen Staaten die einzige Instanz, an die man sich wenden kann."

Benjamin Ward, Human Rights Watch London (Foto: HRW)
Fordert mehr Akzeptanz für den Gerichtshof: Benjamin WardBild: Human Rights Watch

Diesen politischen Willen der Mitgliedsstaaten wird der neue Präsident Dean Spielmann fördern müssen - mit viel öffentlichkeitswirksamer Überzeugungsarbeit.