Wagenknecht über Europa
15. Februar 2014Deutsche Welle: Die Bürger in der Schweiz haben in einem Referendum entschieden, dass künftig die Zuwanderung auch aus den EU-Ländern begrenzt sein soll. Kann sich ein ähnliches Ergebnis auch in anderen europäischen Ländern wiederholen, insbesondere jetzt, im Vorfeld der Europawahlen?
Sahra Wagenknecht: Das Grundproblem ist, dass die EU-Verträge und die Art der EU-Integration, wie wir sie erleben, so gestaltet ist, dass sie vor allem den Interessen der größten Wirtschaftunternehmen und Banken nutzt. Und das spüren die Leute. Natürlich sind offene Grenzen und Arbeitnehmerfreizügigkeit positive Errungenschaften. Aber es darf nicht zugelassen werden, dass diese Errungenschaften von den Unternehmen für Lohndumping missbraucht werden. Und genau das findet heute in der Schweiz statt, und in noch höherem Grad in Deutschland. Viele osteuropäische Arbeitnehmer bekommen in Deutschland einen miserablen Löhn. Das senkt das Gesamtlohnniveau, schürt berechtigte Ängste und löst gewisse Abwehraktionen aus. Die Menschen werden dann von Rechtspopulisten und von Nationalisten auf eine ziemlich reaktionäre Weise angestachelt und benutzt. So erleben wir europaweit, dass solche Parteien Zulauf bekommen und dass die EU, so wie sie heute ist, immer mehr an Resonanz, auch an Unterstützung in der Bevölkerung verliert. Das ist nachvollziehbar. Aber es ist auch ein großes Problem. Ich glaube, dass diese Parteien bei der Europawahl tatsächlich relativ stark abschneiden können.
Haben Sie Angst, dass die Populisten in Europa noch stärker werden könnten?
Ja, weil es historische Parallelen gibt, die einem Angst machen. Natürlich kann man das heutige Europa nicht mit dem Europa nach der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahren vergleichen. Und trotzdem gibt es Ähnlichkeiten. Damals haben sich gerade in Deutschland viele Menschen von der Demokratie abgewandt, weil sie das Gefühl hatten, sie werden sozial im Stich gelassen. Und es war vor allem die hohe Arbeitslosigkeit damals, die zu dieser Frustration beigetragen hat. Ich hoffe nicht, dass Parteien, die sich offen auf diese faschistoiden Traditionen beziehen, oder solche, die es geschickter machen, in Europa heute mehr Zulauf bekommen. Weil das nämlich eine sehr gefährliche Entwicklung ist.
Was will die Linke konkret in der EU verändern?
Wir brauchen eine ganz andere Balance zwischen den Kompetenzen, die in den Mitgliedsstaaten liegen und verbleiben müssen, und dem, was Europa wirklich regeln kann und regeln sollte. Wir brauchen vor allem eine viel stärkere soziale Ausrichtung dieses Europa. Ich halte gar nichts davon, immer mehr Kompetenzen auf Brüsseler Behörden zu verlagern, ohne die Frage zu stellen: Wie legitimiert sind eigentlich diese Behörden? Die EU-Kommission zum Beispiel ist eigentlich ein Lobbyisten-Club von großen Wirtschaftskonzernen. Das heißt, diese Konzerne sind unmittelbar daran beteiligt, wenn die EU-Kommission irgendwelche Richtlinien schreibt. Das ist keine demokratische Institution. Und selbst das EU-Parlament wird in der Regel gerademal von der Hälfte oder weniger als der Hälfte der Bürgerinnen und Bürgern in der EU gewählt. Auch hier ist die Legitimation schlechter als bei einem nationalen Parlament. Und deswegen sollte sich die EU auf das beschränken, was wirklich europäisch geregelt werden müsste.
Obwohl sich in Griechenland die wirtschaftliche Lage leicht verbessert hat, steckt das Land immer noch in einer tiefen Krise. Soll es einen weiteren Schuldenschnitt für das hochverschuldete Land geben?
Ich bin überzeugt, dass es am Ende keinen anderen Weg gibt, weil die Schulden einfach viel zu hoch sind, um bedient zu werden. Das Problem ist, dass der Schuldenschnitt jetzt natürlich überwiegend zu Lasten der Steuerzahler in Griechenland und der Steuerzahler in den europäischen Ländern geht, weil ein großer Teil der griechischen Schulden vergesellschaftet wurde. Aber das ist eben die Verantwortung der europäischen Politik, die muss auch die Konsequenzen tragen. Es ist eine verlogene Politik gewesen. Einerseits hat man von Griechenland gefordert, Mindestlöhne und Renten zu kürzen sowie Massenentlassungen im öffentlichem Dienst verlangt. Andererseits gab es aber keinerlei Druck auf die griechische Oberschicht, die ja das Desaster überwiegend angerichtet hat, um sie mit ihrem Vermögen zur Kasse zu bitten. Das wäre ein weiterer Schritt: nicht die kleinen Leute, nicht die Mittelschicht, sondern die griechischen Millionäre und Multimillionäre mit einer saftigen Vermögensabgabe dazu zu zwingen, sich an den Kosten dieser Krise zu beteiligen.