Warten auf Milch
25. Februar 2015Es gibt einen neuen Beruf in Venezuela: Professionelles Schlange Stehen. Viele Venezolaner verdienen damit Geld, mehrere Stunden vor Geschäften und Drogeriemärkten zu verbringen. Sobald sie an der Reihe sind, kaufen sie alle Produkte, die sie erhalten, um sie dann für einen bis zu acht Mal höheren Preis auf dem Schwarzmarkt weiter zu verkaufen. Wichtigste Qualifikation für jeden, der diesen Warte-Job machen möchte, ist die Bereitschaft, sehr früh aufzustehen - oder gleich am Ort des Geschehens zu übernachten.
Vor allem fehlen Milch, Öl, Zucker und Margarine. Grundnahrungsmittel also, deren Mangel vor allem die ärmere Bevölkerungsschicht hart trifft. Und es fehlt vorrangig an Produkten, deren Preise von der Regierung festgesetzt werden. Eigentlich sollte genau diese Preiskontrolle einkommensschwächere Menschen vor steigenden Preisen schützen. Nun sorgt sie aber dafür, dass die Menschen die wichtigen Produkte gar nicht erst bekommen.
Maduro sieht sich als Opfer einer internationalen Verschwörung
Venezuelas Präsident Nicolás Maduro erklärt, die Unternehmer und Eigentümer der Supermärkte seien höchst persönlich Schuld an dem Desaster. Er wirft ihnen vor, Produkte zu horten - sie also künstlich zu verknappen - und dann zu einem höheren Preis auf dem Schwarzmarkt weiter zu verkaufen. Die Unternehmer führen Maduros Ansicht nach einen "Wirtschaftskrieg gegen das Volk". Arm in Arm mit dem "US-amerikanischen Imperium" und der Opposition planten sie die Destabilisierung des Landes. Deswegen ließ Maduro auch Anfang Februar eine Reihe von Supermarkt- und Drogeriemarktbetreibern festnehmen und die Märkte verstaatlichen. Die Regale hat das bisher nicht gefüllt.
Bei regierungskritischen Demonstrationen - die sich unter anderem auch gegen die Versorgungsengpässe im Land richteten - ist am Dienstag ein 14-jähriger Schüler in San Cristobal getötet worden. Nach Angaben des Innenministeriums habe ein Polizist von einer Schusswaffe Gebrauch gemacht, um die Menge vor dem Gouverneurspalast zu zerstreuen - es sei aber unklar, ob die Kugel den Jungen getroffen habe.
Wirtschaftsprofessor Pedro Palma von der führenden privaten Wirtschaftsuniversität IESA ("Instituto de Estudios Superiores de Administracion") in Venezuelas Hauptstadt Caracas hält die Vorwürfe Maduros an die Unternehmer für vollkommen aus der Luft gegriffen: "Die Regierung hat Angst vor der aktuellen wirtschaftlichen Situation im Land und verfolgt strikt die Strategie, die Verantwortung für jegliche Probleme auf andere abzuwälzen." Dabei seien, so Palma, vor allem die staatlichen Preiskontrollen sowie das harte Vorgehen der Regierung gegen Privatunternehmer daran Schuld, dass wichtige Produkte fehlen. Diese Meinung teilt auch der Internationale Währungsfonds (IWF) in einem neuen Bericht.
Unternehmer zahlen drauf
Denn während Produktionskosten sowie Löhne und Mieten aufgrund der extremen Inflationsrate von fast 70 Prozent stetig steigen, dürfen die Unternehmen keine höheren Preise für die von den Kontrollen betroffenen Produkte verlangen. Das führt dazu, dass sie weniger Geld für ihre Produkte erhalten, als die Unternehmer zuvor für sie ausgegeben haben. Das Ganze sei eine "vollkommen verdrehte Preispolitik", so Ökonom Pedro Palma aus Caracas. Zahlreiche Märkte mussten schließen. Hinzu kommt der Mangel an Devisen im Land, der dazu führt, dass Unternehmen die für ihre Produktion wichtigen Materialien nicht importieren können.
Der Verfall des Erdölpreises heizt die Situation weiter an. Venezuelas staatliche Einnahmen stammen zu 96 Prozent aus dem Verkauf dieses Rohstoffs. Der Staat kann seine Kosten aufgrund der extrem niedrigen Ölpreise aber nicht mehr decken und druckt Geld - was die Inflation weiter ansteigen lässt.
Da sich das Land vor allem auf die Erdölförderung konzentriert, hängt es außerdem nahezu komplett vom Import ausländischer Produkte ab. Diese werden allerdings mit US-Dollar bezahlt.
Um neues Geld ins Land zu holen, reiste Maduro im Januar 2015 nach China, wo er Kredite in Milliardenhöhe erhielt. Damit sind die Probleme jedoch nicht beseitigt, sondern nur aufgeschoben. Experten fordern grundlegende Reformen des Wirtschaftssystems sowie die Abschaffung der staatlichen Kontrollen.
Klima der Angst
Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass Präsident Maduro seinen Kurs in naher Zukunft ändern wird. Im Gegenteil: Vielmehr wird der Ton im Land vor allem gegenüber Oppositionellen immer aggressiver. Auch ein Jahr nach den teils gewalttätigen Protesten gegen die Regierung werden Kritiker weiterhin kaltgestellt. So wurde erst kürzlich der Bürgermeister von Venezuelas Hauptstadt Caracas, Antonio Ledezma, festgenommen. Ihm wird ein Putschversuch vorgeworfen.
Auch Wirtschaftsprofessor Pedro Palma weiß, dass er sich mit seinen regierungskritischen Aussagen auf die Zielscheibe der Maduro-Regierung begibt: "Ich bin mir des Risikos vollkommen bewusst. Ich könnte eines der nächsten Opfer sein." Doch zunächst einmal konzentriert sich Präsident Maduro auf das Oppositionsmitglied Julio Borges: Auch dieser Abgeordnete habe am angeblichen Putschversuch mitgewirkt, so Maduro.