Warum Hannah Arendt uns heute noch inspiriert
11. Mai 2020Da sitzt sie, das Gesicht in die Hand gestützt - nachdenklich, die brennende Zigarette zwischen den Fingern. Hannah Arendt, nicht mehr ganz jung. Eine Schwarz-Weiß-Fotografie, aufgenommen mit leichter Untersicht. Und darauf gedruckt das rätselhafte Zitat: "Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen."
Mit diesem Plakat lädt das Deutsche Historische Museum nun mit Corona-bedingter Verzögerung in eine Ausstellung über die große Denkerin und das 20. Jahrhundert ein.
Ihrem subjektiven Blick folgt die Schau in 16 kurzweiligen Kapiteln - mit Fotos, Ton- und Filmdokumenten, mit Objekten aus Hannah Arendts privatem Nachlass sowie internationalen Leihgaben. Das Anliegen: Kristallisationspunkte der Geschichte des 20. Jahrhunderts auf neue Weise darzustellen.
Dafür eignet sich Hannah Arendts Werk tatsächlich bestens. Denn die Philosophin hat zu zentralen Themen wie Antisemitismus, Kolonialismus, Rassismus, Nationalsozialismus und Stalinismus publiziert - mit einer bemerkenswert rigiden Urteilsfreude, die Lust und Wagnis zugleich widerspiegelte. Die Liste der Kontroversen, die die Intellektuelle ausgelöst oder befördert hat, ist lang, am heftigsten war sicher die um ihr Buch "Eichmann in Jerusalem", die weltweit geführt wurde und auch in der Ausstellung viel Raum einnimmt.
1961 hatte Hannah Arendt in Jerusalem als Reporterin am Prozess gegen den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann teilgenommen. Er war für die Deportationen von Millionen Juden in Konzentrations- und Vernichtungslager verantwortlich. Arendts Beitrag über den Prozess erschien 1963 in der Zeitschrift "The New Yorker" und als Buch mit dem Untertitel "Ein Bericht von der Banalität des Bösen". Darin beschreibt sie Adolf Eichmann als überzeugungslosen Technokraten, der sich als bloßes Werkzeug seiner Vorgesetzten stilisiert habe.
Von der Banalität des Bösen
Die Brutalität des banal Bösen bestehe in seiner organisierten Gedanken- und Verantwortungslosigkeit. Und der "unbedingte" Gehorsam, auf den sich Eichmann wiederholt berufen habe, sei im Prinzip ein Ausdruck dieser Geisteshaltung.
Die Kontroverse um Arendts Bericht entzündete sich nicht nur an der Frage der "Banalität", die schon der Titel aufwarf, sondern auch an der Haltung der "Judenräte". Waren die Menschen, die diesen Institutionen angehört hatten, der Kollaboration schuldig geworden?"Wir stellen", sagt Monika Boll, die Kuratorin der Schau, "Hannah Arendts Urteile zu Themen des 20. Jahrhunderts zur Disposition. Nicht, weil wir glauben, dass Hannah Arendt immer recht hat. Durchaus nicht. Aber indem wir diese Lust am Urteilen eben auch an die Besucher übertragen und delegieren, wollen wir, dass sie sich selber auch Urteile bilden." Ganz im Sinne Hannah Arendts, für die das Urteilen eine eminent politische Tätigkeit war. Für die Philosophin, so Boll, hätte der Nationalsozialismus nicht nur einen Zusammenbruch aller moralischen Werte bedeutet, sondern auch einen Zusammenbruch des Urteilsvermögens. Weil die Meinung gleichgeschaltet wurde. Weil man 'wir' sagte und nicht 'ich'. Damit aber sei auch die Frage der persönlichen Verantwortung auf unpersönliche Instanzen abgeschoben worden.
Philosophisch, weitschauend, leidenschaftlich
Hannah Arendt ist ein Kind des 20. Jahrhunderts. Geboren 1906 als Tochter säkularer jüdischer Eltern nahe Hannover, aufgewachsen in den gebildeten Kreisen Königsbergs. 1924 begann sie Philosophie und im Nebenfach Theologie zu studieren, zunächst in Marburg, später in Freiburg und Heidelberg. Auf Vermittlung von Martin Heidegger wurde sie 1928 von Karl Jaspers promoviert.
Sie schrieb für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" und befasste sich mit Rahel Varnhagen von Ense, einer intellektuellen Jüdin der Romantik. Deren Geschichte galt als Beispiel einer geglückten Assimilation - Arendt hingegen stand der Idee der Assimilation im Namen der Gleichheit aller Menschen skeptisch gegenüber. Sie hielt es für politisch naiv - und eckte mit dieser Ansicht an.
Früher als viele andere, schon 1931, ging Hannah Arendt davon aus, dass die Nationalsozialisten an die Macht kommen würden. Und anders als die meisten Deutschen vertrat sie schon 1933 die Auffassung, dass das Regime aktiv bekämpft werden müsse. 1933 emigrierte die junge Frau nach Frankreich, war in Paris für zionistische Organisationen tätig, arbeitete wissenschaftlich und flüchtete 1941 mit Ehemann und Mutter weiter über Lissabon nach New York. Aus Hannah Arendt wurde eine leidenschaftliche amerikanische Staatsbürgerin.
"Denken ohne Geländer"
Treu geblieben ist sie sich ihr Leben lang, ist nie einer bestimmten Schule, Tradition oder Ideologie gefolgt. Ihr Denken, sagt Monika Boll, sei schwer einzuordnen und deshalb so interessant. "Man kann in diesem Denken eben immer wieder sowohl liberale als auch konservative und linke Anteile finden, so dass sie ganz schwierig auf einer politischen Seite zu verorten ist." Als 'Denken ohne Geländer' hat Hannah Arendt das selbst bezeichnet. Hinzu kommt, dass sie eine ausgezeichnete Autorin ist. All das mache sie so lebendig, schwärmt Monika Boll. "Eben deshalb beschäftigt man sich so gerne mit ihr."
Und tatsächlich, egal, ob es nun Arendts Berichte aus dem Nachkriegsdeutschland sind, ihre Einlassungen zur Flüchtlingsfrage, zum Rassismus in Amerika oder zur internationalen Studentenbewegung - immer wieder vermag sie zu überraschen. Die Besucher der Berliner Ausstellung ermuntert sie jedenfalls geradezu, eigene Ansichten zu hinterfragen. Und noch etwas nimmt man von dort mit: wie wichtig es ist, eine begründete eigene Meinung zu haben. Kuratorin Monika Boll drückt es ein bisschen anders aus: Gerade in Zeiten von Fake News, lancierten Themen und in Sozialen Medien erzeugter Massenhysterie sei Hannah Arendt ein wunderbares Gegengift.