Warum schützt die Liga ihre Spieler nicht?
25. November 2018Matthias Ginter hatte in der 37. Spielminute der Partie Borussia Mönchengladbach gegen Hannover 96 keine Chance: Hannovers Noah Sarenren Bazee hatte am Mittelkreis zum Tempodribbling angesetzt, sprintete mit dem Ball am Fuß auf zwei Gladbacher Verteidiger zu, geriet durch einen Schubser leicht ins Straucheln und krachte unabsichtlich mit seiner Stirn ungebremst ins Gesicht des deutschen Nationalspielers. Eine schlimme Szene. Beide Spieler gingen benommen zu Boden und blieben dort minutenlang liegen und wurden behandelt. Sarenren Bazee blutete an der Stirn, auf der sich zudem schnell eine große Beule bildete.
Schlimmer hatte es Ginter erwischt: Der 24-Jährige wurde auf der Trage vom Feld getragen und mit Verdacht auf eine möglicherweise schwere Verletzung der Gesichtsknochen in eine Klinik gebracht. Später stellte sich heraus, dass Augenhöhle und Kiefer gebrochen waren. Ginters "Unfallpartner" wurde zunächst zum Spielfeldrand geführt, dort noch einmal kurz im Gesicht abgetastet und befragt, dann durfte er wieder auf den Platz. Eine unverantwortliche Entscheidung, wenn man bedenkt, welch schwerwiegende Folgen Kopfverletzungen nach sich ziehen können - sogar dann, wenn man anschließend nicht noch Fußball spielend über den Rasen rennt.
Die Konsequenz folgte wenige Minuten später: Fernab des Balles legte sich Sarenren Bazee auf den Boden und konnte nicht mehr weitermachen. Er wirkte angeschlagen und wie nicht ganz bei sich. Zum Glück für ihn, denn eigentlich hätten Hannovers Mediziner, Trainer und Betreuer ihn gar nicht mehr ins Spiel lassen sollen. "Bei Noah Joel Sarenren Bazee ist es auf jeden Fall eine Platzwunde und eine Gehirnerschütterung", gab Trainer Andre Breitenreiter später auf der Pressekonferenz bekannt.
Warum kein "Concussion protocol"?
Der Vorfall zeigt ein weiteres Mal, wie vergleichsweise sorglos in der Fußball-Bundesliga mit Kopfverletzungen umgegangen wird. Ärzten ist dank vieler Studien längst klar, wie gefährlich heftige Stöße gegen den Kopf sein können. "Die Geschwindigkeiten werden im Sport immer höher - aber der Kopf muss da rausgehalten werden. Ansonsten drohen dramatische Gesundheitsschäden", sagte Florian Heinen, Experte für Hirnentwicklung an der Ludwig-Maximilians-Universität in München vor einem Jahr in der "Süddeutschen Zeitung" (SZ). Der Mediziner erklärte weiter, dass sich die Stöße, die das Gehirn im Laufe des Lebens abbekomme sich aufaddierten: "Man wird den Schaden nicht mehr los". Heinen plädierte damals sogar für Fußball ohne Kopfball: "Zwar passieren solche Traumata nicht nur beim Kopfball, aber wenn der nicht mehr zugelassen wäre, würden die Luftkämpfe weniger", so seine Erklärung gegenüber der SZ.
Ohne ebenfalls so weit zu gehen, muss man festhalten, dass der Fußball in Deutschland - im Gegensatz zu anderen Sportarten - bei der Sorgfalt und dem Schutz von am Kopf verletzten Spielern keine allzu verantwortungsbewusste Figur macht. Beispielsweise sind die USA bei dem Thema sehr viel weiter, leider aus traurigem Anlass, gibt es doch in Amerika zahlreiche gut dokumentierte Fälle ehemaliger Footballprofis, bei denen posthum die Gehirne untersucht worden waren. Bei 96 Prozent der verstorbenen Ex-NFL-Profis wiesen die Mediziner eine chronische, durch Traumata bedingte Hirndegeneration (CTE) nach - mit drastischen Folgen. Viele der Spieler hatten wegen Gedächtnisverlust, Depressionen und Demenz Selbstmord begangen.
Die NFL reagierte und führte das sogenannte "Concussion protocol" ein, ein festgelegtes Vorgehen bei Verdacht auf Gehirnerschütterung: Zwei neutrale Beobachter melden jeden verdächtigen Zusammenprall umgehend an das medizinische Personal und an die Trainer weiter. Selbst bei geringstem Verdacht auf eine Kopf- oder Hirnverletzung muss der Spieler dann aus dem Spiel genommen und intensiv untersucht werden. Er darf erst dann wieder am Training und den Spielen teilnehmen, wenn er Nachtests bestanden hat und die Ärzte ihm grünes Licht geben.
Spieltag der Turbanträger
In der Bundesliga gibt es diesen festgelegten Ablauf nicht. Nicht selten kommt es vor, dass Spieler mit Brummschädel nach kurzem Schütteln weiterspielen. An diesem 12. Spieltag machten gleich drei Bundesliga-Profis nach einem Zusammenprall mit Turban weiter: Die Wolfsburger Robin Knoche und Wout Weghorst sowie der Mainzer Alexander Hack. Sarenren Bazee - diesmal ohne Kopfverband - komplettierte das Quartett.
Warum, die Ärzte ihre "Patienten" nicht rigoroser schützen, kann nur vermutet werden. Möglicherweise, weil sie den Spielern, die keine Schwäche zeigen wollen, zu bereitwillig glauben, wenn die signalisieren, dass es weitergehen kann? Möglicherweise, weil die Teamärzte und Betreuer unter dem Druck stehen, die Spieler möglichst schnell wieder fit und auf den Rasen zu bekommen?
Dr. Tim Niedergassel, einer der Teamärzte des Zweitligisten Arminia Bielefeld, vertrat im Gespräch mit der DW vor einem halben Jahr einen anderen Standpunkt: "Es ist nicht immer möglich zu bestimmen, wie intensiv eine Gehirnerschütterung zum Zeitpunkt der Verletzung ist", sagte er. Daher müsse ein Spieler, der eine Gehirnerschütterung erlitten habe, immer aus dem Spiel genommen werden, damit er hinreichend untersucht werden könne. "Von dem Moment an, in dem ein Spieler eine Kopfverletzung erleidet, sollte er für mindestens 24 Stunden keinen Fußball spielen", forderte Niedergassel. "Das muss im Fußball und allen Sportarten Standard sein." Bisher wurde seine Forderung nicht erhört.
Leidensgenosse Kramer auf der Tribüne
Einer, der sich mit Kopfverletzungen auskennt, ist Christoph Kramer, Weltmeister von 2014. Kramer hatte im WM-Finale einen Schlag an den Schädel erhalten und anschließend nicht mehr gewusst, wo er war. Trotzdem spielte er eine Viertelstunde lang weiter. Am Anfang der Bundesliga-Saison 2017/18 wurde er in zwei aufeinanderfolgenden Spielen hart am Kopf getroffen, erlitt eine Schädelprellung und eine Platzwunde.
Nun saß er beim Spiel der Gladbacher gegen Hannover auf der Tribüne und beobachtete, wie zuerst sein Teamkollege Ginter und anschließend auch Sarenren Bazee vom Feld gebracht werden mussten. Kramer wird gewusst haben, wie sich die verletzten Kollegen gefühlt haben - es war mit Sicherheit kein gutes Gefühl.