Was ein Fußballspiel alles ändern kann
15. Juli 2018Schon lange vor dem Anpfiff kocht die Stimmung über. Und das liegt gar nicht an der Vorfreude auf ein großes Spiel. Es liegt schlicht an der Hitze. Gnadenlos brennt die Sonne auf die Pariser Fanmeile. Auf dem breiten Champ de Mars zwischen Eiffelturm und École Militaire gibt es keinen Schatten, die Luft flirrt. Immer mehr Menschen drängen auf die breite Schneise, die durch das 7. Pariser Arrondissement geht. Der Platz wird knapp, Wasser ist es sowieso. Eine Frau ist gerade kollabiert, Fans und Ordner helfen ihr aus der Menge.
In diesem Moment trifft die Pariser Feuerwehr eine kluge Entscheidung: Wasser Marsch! Mit seinem Schlauch hält ein Feuerwehrmann über die Menge und spendet ihr damit etwas wohltuende Nässe an diesem heißen Julitag in Paris. Jubel brandet auf, irgendwer stimmt die Marseillaise an und bald machen alle mit.
Und so geht es weiter in den Stunden vor dem Anpfiff. Man schwitzt, man singt, man schunkelt. 90.000 Menschen auf der Pariser Fanmeile fiebern dem Spiel entgegen, draußen vor den Einlässen stehen Tausende und werden nicht mehr reingelassen, aus Angst vor einer Massenpanik. Und natürlich liegt auch ein mulmiges Gefühl über diesem zweiten großen Festtag infolge, nachdem tags zuvor hier der Nationalfeiertag begangen wurde. Die Erinnerungen an die Terroranschläge in Paris sind immer noch präsent, landesweit sollen an diesem Tag 110.000 Polizisten im Einsatz sein, um die große WM-Party abzusichern.
Der Glaube an Frankreich
An all das denkt hier aber plötzlich niemand mehr, als auf der riesigen Leinwand am Fuße des Eiffelturms der Anpfiff ertönt. Und es dauert nicht lange, bis die Stimmung hier erneut überkocht: 19. Minute, der kroatische Angreifer Mario Mandzukic köpft den Ball kunstvoll, aber leider ungewollt ins Tor - das eigene. 1:0 für Frankreich, Extase. Ein kollektiver Schrei schallt über das Champ de Mars. Roter und blauer Rauch steigt aus der Menge empor, vor der Leinwand detoniert etwas lautstark. Kurz jagt ein Schreck durch die Glieder. Doch es war nur ein reingeschmuggelter Böller.
Während die französischen Fans noch singen und die Führung feiern, ist die kurz darauf auch schon wieder dahin: Einem Freistoß von Modric folgt eine Kopfball-Stafette, der die französischen Verteidiger nur zuschauen, ehe Ivan Perisic sich den Ball in Ruhe zu Recht legen darf und zum Ausgleich trifft (28.). Entsetzte Gesichter auf der Fanmeile von Paris. Man schaut in ungläubige Gesichter mit offenen Mündern.
Wie still 90.000 Menschen plötzlich sein können. Doch dieses an emotionalen Wendungen nicht arme Spiel nimmt kurz darauf eine weitere: Sechs Minuten später gibt der Schiedsrichter Elfmeter, den die Menge in Paris bereits lautstark gefordert hatte. Antoine Griezmann verwandelt eiskalt, die erneute Führung. "Unsere Mannschaft ist jung, sie sind motiviert, dynamisch und kaum jemand hätte es ihnen vor dem Turnier zugetraut. Bravo!", jubelt Pauline. Eine junge Frau, die seit Stunden am Zaun ganz vorne vor der Leinwand ausharrt. Die Schweißperlen stehen ihr auf der Stirn und ein Sonnenbrand zeichnet sich ab, egal. Sie liebt dieses Team, sagt sie, und sie glaubt an Frankreich.
Der große nationale Moment
Die Franzosen fiebern, bangen und jubeln gemeinsam. Das WM-Finale wird zum erhofften nationalen Moment der Einheit. Ein Land, das von Gegensätzen geprägt ist, dessen Schichten auseinander driften, dessen Hoffnungsträger Emmanuel Macron längst nicht allen Wohlstand bringt und dessen Spannungen sich sogar in der Nacht des Finaleinzuges in Gewalt auf den Straßen von Paris entluden, steht vereint auf der Fanmeile, sitzt im Café oder im Garten vor dem Fernseher und hat ein gemeinsames Ziel: den WM-Titel.
Das Symbol der ethnisch gemischten Nationalelf, die gemeinsam Grenzen überwindet und gewinnt wurde 1998 überall gefeiert. Inzwischen ist es als Momentaufnahme entlarvt, die eben doch nicht für das alltägliche Leben in Frankreich steht. Die soziale Kluft existiert weiter, daran konnte damals weder Lilian Thuram etwas ändern noch kann es heute Kylian Mbappé. Und trotzdem singen die Franzosen hier und heute wieder vereint, vor diesem wohl letzten Lagerfeuer, das die gesamte Gesellschaft zusammenbringt.
Der große nationale Moment scheint zu Beginn der zweiten Halbzeit in Gefahr, die Kroaten drängen auf das französische Tor, auf der Pariser Fanmeile werden die „Allez les Bleus"-Rufe spürbar leiser. Doch mitten in dieser Phase des Zweifels landet wieder die französische Mannschaft den nächsten Wirkungstreffer. Paul Pogba erhöht in der 58. Minute auf 3:1, Kylian Mbappé wenig später auf 4:1. Das Champ de Mars explodiert vor Freude und Erleichterung. Es gibt kein Halten mehr. Kollektives Ausrasten. Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen, Freudentränen kullern. Und dann natürlich die Marseillaise, geschmettert von Tausenden Stimmen. Der kapitale Bock von Keeper und Kapitän Hugo Lloris, der zum 4:2 (69.) durch Mandzukic führt, ist kein echter Stimmungsdämpfer mehr.
Paris lacht, singt, feiert
Der lang herbeigesehnte Abpfiff geht im Sturm der Emotionen unter. Paris steht Kopf. "On est champion, on est champion", singen sie immer und immer wieder. "Dies ist ein Moment der Freude, des Optimismus, des Glaubens an die Zukunft - es ist zu schön um wahr zu sein", sagt eine brünette Frau im Trikot der 98er-Weltmeister, ehe sie im Getümmel der Feiernden verschwindet.
Fahneschwenkend ziehen sie von der Fanmeile aus durch die Straßen, aus den Cafés hört man die Menschen lachen und feiern, endlose Autokorsos legen die Innenstadt lahm. Hupkonzert, Feuerwerkskörper, Stimmengewirr, Gesang - über Paris liegt plötzlich eine sommerliche Leichtigkeit, die dieser stolzen Stadt trotz beharrlichen Versuchen zuletzt irgendwie verloren gegangen war. Was ein Fußballspiel doch alles ändern kann.