Was es bedeutet, Soldat in Israel zu sein
11. Mai 2016Zwei Minuten lang ertönten heute um 11 Uhr in ganz Israel die Sirenen. Jedes Jahr am Gedenktag bleiben die Menschen stehen, wo auch immer sie sich gerade befinden. Der Opfer von Kriegen zu gedenken, ist in vielen Ländern üblich. Doch in Israel hat das Soldatsein eine besondere Bedeutung. Seit der Staatsgründung im Jahr 1948 ist der Militärdienst für junge Männer und Frauen nach der Schulzeit verpflichtend.
Die Dienstzeit in der israelischen Verteidigungsarmee, der Israeli Defense Force (IDF), entscheidet über vieles im weiteren Leben. Ob im Lebenslauf, bei Vorstellungsgesprächen oder bei der Bewerbung an Universitäten - die Erklärung über Dienstzeit und Dienstgrad gehört immer dazu.
"Heute würde ich es wahrscheinlich nicht mehr machen", sagt der 30-jährige Ariel Nura Cohen, ein Masterstudent im Fach Konfliktforschung an der Universität Jerusalem. "Damals habe ich die Armee als Teil des Lebens wahrgenommen, der einfach dazu gehört." In Israel sei die Armee leider eine ziemlich grundlegende Erfahrung, sagt er.
Zeit in der Armee als Teil der Kultur
Omri Raviv, ein 31-jähriger Fotograf, der heute in Amsterdam lebt, stimmt dem zu. "Ich hatte damals den Gedanken, nicht zu dienen", erinnert er sich, "aber ich wusste - jeder in Israel weiß es-, dass die Zeit in der Armee Teil unserer Kultur ist und dass es die Norm ist. In dem Alter damals wollte ich nichts tun, was außerhalb der Norm liegt. So bin ich glücklich, dass ich es getan habe, aber ich bin auch genauso glücklich, dass es vorbei ist", sagt er.
Viele Israelis stimmen zu, dass es in so frühem Alter, direkt nach dem Schulabschluss, sehr unwahrscheinlich ist, das sich jemand gegen den Mainstream entscheidet. Gerade mit dem Wissen, dass jeder Einwand oder gar die Ablehnung des Dienstes Haft oder andere soziale Sanktionen nach sich ziehen könnte. Allerdings sehen die meisten Israelis die Zeit in der IDF im schlimmsten Fall als notwendiges Übel und bestenfalls als Ausdruck des Nationalstolzes.
Mit mehr als 176.500 regulären Soldaten und über 445.000 Reservisten sind auf den Straßen immer Menschen in Uniform zu sehen, die Waffen tragen. Es ist ein alltäglicher Anblick. Das geht so weit, dass es Israelis nicht seltsam finden, wenn ein Soldat, der neben ihnen im Zug sitzt, sein Maschinengewehr putzt.
Wie israelische Soldaten Palästinenser behandeln
Sophie, eine israelische Designerin, die in Berlin lebt und anonym bleiben möchte, erinnert sich an ihre Militärzeit: "Ich war an einem Kontrollpunkt stationiert und sah zum ersten Mal in meinem Leben, wie Palästinenser versuchten, nach Israel einzureisen. Damals fühlte ich in einen Widerstand in mir gegen das, was wir da taten. Heute weiß ich, dass das ein sehr schwacher Protest von meiner Seite war."
"Würde ich heute dort stehen, würde ich wahrscheinlich viel mehr Wut und Widerstand zum Ausdruck bringen über die die Art und Weise, wie israelische Soldaten Palästinenser behandeln", sagt sie. "Die Person, die ich heute bin, würde es nicht mehr akzeptieren, was damals passiert ist."
Viele denken aber auch, dass der Eintritt in die Armee nichts Schlechtes sei. Genannt werden Begriffe wie Reife und Verantwortungsgefühl. Eine wichtige Rolle spielen wohl auch Vorteile für die eigene Zukunft, die viele mit der Armee verbinden.
Israelische Identität ohne Armee nicht vollständig
"Als ich 18 Jahre alt war, war ich noch orthodox und damit wurde ich vom Armeedienst befreit", sagt Ori Padael, eine Grundschullehrerin. Palästinenser, israelische Araber und orthodoxe Männer müssen nicht in der Armee dienen. Religiöse Frauen können wählen, ob sie ein oder zwei Jahre gemeinnützig arbeiten. Jedoch sagen viele, die keine militärischen Erfahrungen gemacht haben, dass sie sich als Außenseiter fühlen.
"Meine israelische Identität ist irgendwie nicht vollständig", sagt Padael, die Lehrerin. "Freunde reden mit einem eigenen Slang, den ich nicht verstehe. Sie haben gemeinsame Erfahrungen, und ich denke, sie haben auch bestimmte Eigenschaften entwickelt, die mir vorenthalten geblieben sind", sagt sie. "Am Ende des Tages, habe ich das Gefühl, dass ich nicht vollständig zu meiner eigenen Gesellschaft gehöre, und das ist nicht nur traurig, sondern auch peinlich."
"Natürlich will niemand in einem Krieg kämpfen, wenn er Spaß im Studium haben könnte oder um die Welt reisen könnte", sagt M., der in einer Kampfeinheit dient. 2014 hat er seinen älteren Bruder im Gaza-Krieg verloren. "Die Situation, mit der wir heute konfrontiert sind, erlaubt uns nicht, die Armee zu verkleinern oder uns kollektiv zu verweigern. Wir sind immer noch von Feinden umgeben", sagt er.
Obwohl sie die Notwendigkeit des Militärs anerkennen, sagen viele, dass es wohl kein Zufall sei, dass die Armee ihre Soldaten einzieht, wenn sie gerade erst 18 Jahre alt sind und ihr Abitur gemacht haben.
Wer gedient hat, darf auch kritisieren
"Niemand will anders als alle anderen sein und nur wenige Menschen verstehen, was die politischen und geistigen Folgen sind, wenn man Soldat ist", sagt der Jerusalemer Student Cohen." Doch er sieht auch Vorteile.
"Es gab mir auch die Möglichkeit, das System von innen zu kritisieren", sagt er. "Es mag ein zu großes Opfer sein, aber da ich in die Armee gehen musste, kann ich jetzt zumindest sagen, dass ich meine eigene Gesellschaft besser kenne und ich kann nun auf all ihre Verfehlungen hinweisen", betont er.
"Es ist wahr", stimmt Padael zu: "Ich fühle mich so, als ob ich kein Recht hätte, etwas zu kritisieren. Ich muss anderen immer erklären, warum ich weltlich aussehe, aber nicht gedient habe. Die Menschen sehen mich dann anders. Jedes Mal, wenn ich ein Formular ausfülle und meine militärische Erfahrung angeben muss, bin ich tief beschämt. So als ob ich nicht hierher gehörte."
Von der Trauer zur Feier
Der Erinnerungstag für gefallene Soldaten gilt weithin als traurigster Tag des Jahres, noch emotionaler als der Holocaust-Gedenktag, der eine Woche früher begangen wird.
Am Tag für die Soldaten zeigen alle Fernsehsender in Israel die persönlichen Geschichten von getöteten Militärangehörigen. 24 Stunden lang laufen Erinnerungsfilme. Mit vielen Zeremonien werden die Gefallenen geehrt. Der Erinnerungstag wird bewusst einen Tag vor dem Unabhängigkeitstag begangen, um so eine Verbindung zwischen denjenigen zu schaffen, die bei der Verteidigung für das Land gestorben sind und denen, die in ihm leben.
Diese Idee wird von Friedensaktivisten, Künstlern und anderen politischen Bewegungen immer wieder in Frage gestellt. Aber immer noch sind an diesem Tag Militärfriedhöfe im ganzen Land überfüllt mit Verwandten und Freunden. Menschen kommen aus allen Teilen der Welt zurück nach Israel, um die Erinnerung an ihre Lieben zu ehren.
Jeder Tod ein Tod zuviel
Zwar gibt es viele, die sich der Wehrpflicht widersetzen, doch an diesem einen Tag im Jahr scheinen die politischen Debatten zu ruhen. "Schließlich stehen hinter den großen politischen Aussagen gewöhnliche Menschen, die es sich nicht unbedingt ausgesucht haben, nun in diesen Positionen zu sein", sagt M. aus der Kampfeinheit.
"Will ich wirklich hier sein? Nein, nicht immer. Aber welche Wahl habe ich?" sagt er. "Ich denke, es ist in Ordnung, einen Tag zu haben, um über das Trauma zu sprechen, ohne es in Zusammenhang mit einem größeren politischen Konflikt zu bringen. Es ist schwer, aber möglich. Entscheidend ist, dass jeder Tod eines 18-Jährigen ein Tod ist, der zu früh kommt. Auf beiden Seiten."