Was es mit Ecuadors "Krieg im Inneren" auf sich hat
13. Januar 2024Eine Machtdemonstration ist noch etwas eindrücklicher, wenn das ganze Land dabei zusieht. Das war wohl das Kalkül der gut ein Dutzend Bewaffneten, die sich am Dienstag Zugang zu einem Studio des Fernsehsenders Canal TC in der ecuadorianischen Hafenstadt Guayaquil verschafften. Die Zuschauer in ihren Wohnzimmern mussten mit ansehen, wie Journalisten bedrängt wurden - einem wurde ein längliches Objekt mit einer Lunte in die Brusttasche gesteckt, das aussah wie Dynamit. Eine Handgranate wurde ins Bild gehalten, Schüsse gen Studiodecke gefeuert, erst Minuten später wurde die Übertragung gestoppt. Später erklärte die Polizei, "die Ordnung sei wiederhergestellt", 13 Eindringlinge festgenommen und Waffen und Sprengstoff sichergestellt zu haben.
Die kurzzeitige Geiselnahme in dem TV-Studio war das dritte Aufsehen erregende Ereignis der jüngsten Eskalation, das bis dahin dem Muster "Schlag und Gegenschlag" folgte: Sie begann am Sonntag mit der Flucht des Drogenbosses Jose Adolfo Macias - genannt "Fito" - aus dem Gefängnis. Daraufhin verhängte Präsident Daniel Noboa einen 60-tägigen Ausnahmezustand, samt Militärpräsenz in den Straßen und nächtlichen Ausgangssperren. Wiederum einen Tag später folgte die Aktion bei Canal TC und teils tödliche Angriffe auf offener Straße in Guayaquil und anderen Städten.
Präsident Daniel Noboa verhängt Kriegsrecht
Die Reaktion der Regierung ist ein weiterer massiver Eskalationsschritt: Der erst seit November amtierende Noboa rief einen "Krieg im Inneren" aus. 22 kriminelle Gangs und Kartelle erklärte er per Dekret zu terroristischen Organisationen und nicht-staatlichen Kriegsparteien. Regierungsschätzungen zufolge sollen sie zusammen rund 20.000 Mitglieder zählen. Im selben Zug ermächtigte er das Militär, diese im Rahmen des humanitären Völkerrechts der Vereinten Nationen zu bekämpfen.
"Sie wollten Angst verbreiten, aber sie haben unseren Zorn erweckt", erklärte Verteidigungsminister Gian Carlo Loffredo in sozialen Netzwerken. "Sie glaubten, dass sie ein ganzes Land unterwerfen könnten, haben aber dabei vergessen, dass die Armee für den Krieg ausgebildet ist."
Langes Abrutschen in die Gewalt
Mit 22.400 Soldaten gegen 22 Banden - auf Ecuador kommen wohl noch blutigere Zeiten zu. Es ist der vorläufige Höhepunkt einer Krise, die sich seit Jahren immer weiter verschärft. Ein Schlaglicht darauf warf die Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio im vergangenen August - der prominente Journalist hatte im Falle eines Wahlsiegs ein hartes Durchgreifen gegen Korruption und organisierte Kriminalität angekündigt. Noch vor der Stichwahl wurden sieben Tatverdächtige im Gefängnis ermordet.
Im vergangenen Jahr wurden 46,5 Tötungsdelikte pro 100.000 Einwohner gezählt, was für Ecuador ein trauriger Rekord ist. Das einst friedliche Andenland zählt damit inzwischen zu den gefährlichsten in Lateinamerika.
Lange konnten die Drogenkartelle in Ecuador keine so große Macht erringen wie in den Nachbarländern Kolumbien und Peru, die weltweit Spitzenplätze bei der Kokainproduktion einnehmen. Manche schreiben diese relative Ruhe der Präsenz des US-Militärs im Land zu. 2009 musste die US-Luftwaffe ihren Stützpunkt in der Küstenstadt Manta dann jedoch schließen, weil der damalige Präsident Raphael Correa sie nicht mehr im Land haben wollte. Im Laufe der 2010er-Jahre gewannen schließlich mehrere Kartelle an Boden - teils mit Verbindungen zu mächtigen Banden in Mexiko, die um die Vorherrschaft auf internationalen Drogenhandelsrouten kämpfen.
Der Staat fordert die Kontrolle über die Gefängnisse zurück
Eine der heute mächtigsten Banden entstand in den 1990er-Jahren in der westecuadorianischen Stadt Chone. Sie nennt sich schlicht "Los Choneros" und soll Verbindungen zum mächtigen mexikanischen Sinaloa-Kartell unterhalten. Ihr Anführer ist Fito - mit dessen Verschwinden aus einem Gefängnis in Guayaquil am Sonntag die Eskalation begann. Der 44-Jährige sollte an dem Tag in eine Zelle mit höheren Sicherheitsstandards überführt werden.
Dass Banden wie die Choneros in Gefängnissen quasi unbehelligt schalten und walten können, gilt als Problem in Ecuador. Der Politikwissenschaftler Luis Córdova sprach gegenüber der DW von einer "illegalen Ökonomie": "Allein im Regionalgefängnis von Guayaquil verwalten sie zusammen fast 700.000 Dollar", so der Koordinator des Programms "Forschung, Ordnung, Konflikt und Gewalt" an der Zentraluniversität von Ecuador. Zusammen mit der fehlenden Kontrolle über die Verwaltung von Vermögenswerten und Kapital habe dies die ecuadorianischen Gefängnisse zu einer "strategischen Drehscheibe für die Planung und den Vertrieb von Drogen gemacht".
Die Regierung geht auf maximales Risiko
Auch Regierungssprecher Roberto Izurieta gibt zu: "Die Gefängnisse waren Orte, an denen sie nichts zu befürchten hatten, weil sie sie kontrollierten." Izurieta sagte der DW: "Die Tatsache, dass Fito nun auf der Flucht ist, zeigt, dass er sich dort nicht mehr sicher fühlte. Und die gesamte Staatsgewalt jagt ihn gerade." Er versprach ein Vorgehen, das weder Unschuldige noch die Sicherheitskräfte selbst unnötig in Gefahr bringe. "Wir übernehmen die Kontrolle in den Haftanstalten - das hat niemand zuvor getan."
Für Präsident Daniel Noboa drängt die Zeit. Sein Mandat läuft nur bis Mai 2025, weil er lediglich die Amtsperiode seines wegen Korruption verurteilten Vorgängers Guillermo Lasso zu Ende bringt. Ein regelrechter Krieg gegen die Kartelle ist ein hohes Risiko für seine politischen Ambitionen und das Land insgesamt. Der Analyst Renato Rivera Rhon äußert im Interview mit dem deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunk ARD die Sorge, dass die Kartelle schlicht zu viel Einfluss in Polizei, Militär und Justiz haben. "Angesichts dieser Schwäche der Institutionen ist es zumindest kurzfristig sehr unwahrscheinlich, dass der Staat Erfolg haben wird."
In einer früheren Version des Artikels hieß es fälschlicherweise, Daniel Noboas direkter Amtsvorgänger sei Raffael Correa gewesen. Tatsächlich war es jedoch Guillermo Lasso. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.