Was steckt hinter den Protesten in Israel?
7. August 2020Mehr als 10.000 Demonstranten zog es vergangenen Samstag in Jerusalem auf die Straßen. Tausende weitere forderten in anderen Teilen Israels den Rücktritt von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Sie reihen sich ein in die Serie wöchentlicher Demonstrationen, die Israel seit Monaten aufmischen. Und sie ziehen immer mehr Menschen an, die wütend darüber sind, wie die Regierung mit der zweiten Welle der COVID-19-Infektionen und den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie umgeht.
Kern der Proteste: Politische Unzufriedenheit
"Um unser Ziel mit zwei Worten zusammenzufassen: 'Zurücktreten, Bibi'", sagt die 59 Jahre alte Tali Etzion aus Tel Aviv, wobei sie den weit verbreiteten Spitznamen für den Politiker nutzt. Etzion nimmt seit 2011 an Anti-Regierungsprotesten teil. Damals gingen Hunderttausende auf die Straße, die wirtschaftliche Gerechtigkeit und ein Ende der Korruption forderten.
"Um es mit ein paar mehr Worten zu sagen: Wir alle glauben - jeder aus seiner eigenen Perspektive -, dass Netanjahu die falsche Person ist, um unser Land zu führen. Das gilt in den sogenannten normalen Zeiten und umso mehr in Zeiten wie diesen", sagt Etzion und bezieht sich dabei darauf, wie die Regierung auf die Corona-Krise reagiert.
"Es ist unerträglich die Kluft zu sehen zwischen den Bürgern, deren Leben so sehr Schaden genommen haben, und den Menschen, die behaupten Anführer zu sein, sich aber ohne Ende bereichern", sagt Ofer Shelly, ein 50-jähriger Pianist und Konzertproduzent aus Jerusalem. Seine Existenz als Musiker ist stark von dem betroffen, was er als "komplette Loslösung der Regierung von der Bevölkerung" bezeichnet. "Keiner unserer Führer steht auf und sagt 'Ich sehe euer Leiden, ich sehe den Kummer.' Sie scheren sich nicht einmal darum, mit den Demonstranten zu sprechen. Nicht ein einziges Mal."
Auch Likud-Wähler sind erzürnt
Sowohl Netanjahu als auch Minister seiner rechtsgerichteten Likud-Partei bezeichneten die Demonstrationen als "linke Proteste" und deren Teilnehmer als "Anarchisten". Ein Teil der Bevölkerung teilt diese Einschätzung, aber viele sind anderer Ansicht - darunter die Prostierenden selbst.
"Netanjahu leugnet die Beschaffenheit der Demonstrationen, ihre Ausmaße und sogar die Identität der Teilnehmer", sagt Efrat Safran. Die 57-jährige Rechtsanwältin aus der Stadt Ramat Hasahron geht schon seit Langem zu Demonstrationen. "Weder eine einzelne Organisation noch eine Einzelperson organisiert all das hier", sagt sie. "Die Proteste sind organisch gewachsen. Leute aus dem gesamten politischen Spektrum nehmen daran teil." Eingeschlossen der "desillusionierten" Netanjahu-Wähler, wie sie sie nennt.
In einem Video, das sich online viral verbreitete, erklärt Arnon Grossman, nach eigenen Angaben Likud-Wähler, warum er an den Anti-Regierungsprotesten teilgenommen hat. Andere Unterstützer der Partei halten Protestplakate auf denen steht "Bibi, auch Likud-Wähler sind gegen eine Diktatur".
Grossman erzählte der israelischen Bloggerin Or-ly Barlev, er habe jahrelang Likud gewählt - werde es jedoch nicht mehr tun "solange Netanjahu die Partei führt". "Ich würde erwarten, dass ein Führer Menschen in solch' schwierigen Zeiten mit Mitgefühl begegnet", erklärte er. "Um ehrlich zu sein, fühle ich mich schuldig. Wegen Leuten wie mir ist er jetzt in dieser Position."
Gemessen an den Schildern und Plakaten bei den Protesten - besonders denen in der Balfour-Straße in Jerusalem, wo sich die Residenz des israelischen Ministerpräsidenten befindet - ist die Unzufriedenheit weit verbreitet.
"Für einige ist es die wirtschaftliche Lage, für andere könnte es die verfaulende Demokratie oder die endlosen Korruptionsskandale sein", sagt Rechtsanwältin Safran über die Motivation der Protestteilnehmer. "Platz ist für jeden, aber die Botschaft ist eindeutig: Geh nach Hause, Bibi."
Wo sind die jungen Leute?
Jahrelang konnten die Protestierenden nicht verstehen, warum sich die junge Generation nicht anschloss. "Wir hatten schon unsere Häuser gebaut, Karriere gemacht, aber was ist mit ihnen? Es ist ihre Zukunft", sagt Safran. Ihre Kinder sind inzwischen älter als 20 Jahre. "Sie sind eine Bibi-Realität hineingeboren worden. Sie kennen nichts anderes und glauben nicht daran, dass etwas anders sein könnte."
Aber drei Wahlen innerhalb eines Jahres, sich ausweitende Korruptionsskandale, in die Netanjahu mutmaßlich verwickelt ist, die steigende Arbeitslosigkeit im Schatten der Pandemie und nicht zuletzt die Festnahme eines früheren Armeegenerals, der zum Demonstrant wurde - all das scheint die die jungen Israelis aus ihrer Apathie zu lösen.
Einer von ihnen ist Amir Gertmann, der regelmäßig zu den Demonstrationen in der Balfour-Straße geht. "Ich setze nicht wirklich Hoffnung in diese Proteste", sagt der 22 Jahre alte Student aus Jerusalem. Er glaube nicht, dass Netanjahu zurücktrete oder sich seine Koalitionspartner von ihm distanzierten. "Und dennoch ist es mir wichtig zu kommen", sagt Gertmann. Vor allem, weil ich es nicht ohne Widerspruch hinnehmen kann, dass versucht wird, gegen eine rechtmäßige Anti-Regierungs-Demonstration hart durchzugreifen, die nur fünf Minuten Fußweg von meinem Zuhause entfernt stattfindet."
Nur ein Schritt bis zur Diktatur
Viele junge Israelis wie Gertmann haben nur eine kleine Chance, nach ihrem Studium einen Job zu finden. Wenn man Shy Engelberg fragt, ist es keine Überraschung, dass diese jungen Menschen nun die Proteste anführen. "Netanjahu hat Israel nur Schaden zugefügt", sagt der 36-jährige Demonstrant, der im Hochtechnologiebereich arbeitet. "Er lügt, sät Hass, benutzt üble Methoden, die er von Leuten wie Trump, Putin und Erdogan gelernt hat." Engelberg ist sich sicher: "Ich würde nicht wollen, dass meine Kinder in einem Land aufwachsen, in dem ihre Stimme nicht zählt. Die Leute spüren, dass ihnen die Demokratie durch die Finger rinnt."
Obwohl die Proteste überwiegend friedlich waren, endeten sie manchmal in Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizisten. Es gibt auch Beispiele, in denen kleine Gangs aus Netanjahu-Unterstützern und Personen aus dem rechtsextremen Bereich oder Ultras aus der Fußball-Szene Demonstranten angegriffen haben.
Kürzlich beschuldigte Netanjahu bei einer Kabinettssitzung Medien, die Proteste zu "entfachen" und Gewaltvorfälle falsch darzustellen. "Es hat noch nie eine so verzerrte Mobilisierung der Medien zugunsten der Proteste gegeben - ich wollte sagen, im sowjetischen Stil, aber es hat bereits nordkoreanische Bedingungen erreicht", sagte der Ministerpräsident.
Demonstrantin Etzion glaubt, dass es für Netanjahu um das politische Überleben geht. "Und wenn er dafür Israel zu einer Diktatur machen muss - so sei es." All das hat das Land an einen richtungsweisenden Punkt gebracht, sagt Protestteilnehmrein Safran. "Es ist unmöglich, hier überhaupt über links oder rechts zu sprechen, wenn wir das erste Mal in 72 Jahren womöglich keine Demokratie mehr sind. Versöhnung wird nicht beginnen, bis er nicht abtritt. Und die Gefahr für die Demokratie wird nicht weg sein. Bald wird es kein Land mehr geben."